Frage an Alice Miller
Tuesday 22 January 2008
Liebe Alice Miller,
Ihre Bücher sind mir kürzlich begegnet, erst „Dein gerettetes Leben“ und jetzt lese ich „Du sollst nicht merken“. Eben las ich das Kapitel C5 – Die nichtsexuellen Tabus.
Das rührt etwas in mir an, was mich schon mein ganzes Leben beeinträchtigt (bin am 1.2.1947 geboren). Das verschwiegene Kriegserlebnis meines Vaters hat offenbar drastischere Auswirkungen, als ich ahnte. Gefühlt habe ich schon irgendwie, dass es wie eine schwarze Wolke über der Familie schwebte und mein Vater für uns zwei Jungs nicht verfügbar war. Ich bin quasi vaterlos aufgewachsen. Mein Bruder starb vor 10 Jahren an einem schnellwachsenden Bronchialkrebs mit 45 Jahren.
Vor drei Jahren sah ich bei meinen Eltern das Video „Das Wunder von Bern“. Beim Abschied konnte ich kein Wort gegenüber meinem Vater rausbringen, mir versagte die Stimme. Doch im Auto brach es raus, ich habe eine Stunde lang zutiefst geschluchzt. Was mich so tief berührt hat war, dass der Vater im Film sich seinem Sohn mit dem geöffnet hat, was er im Krieg erlebt hat und sie haben zueinander gefunden, was mir versagt blieb. Schlagartig wurde mir klar, dass das bei uns gefehlt hat und was es für einen Preis gekostet hat. Jegliches Miteinander von Vater und Söhnen, ein halbwegs entspanntes Leben als Kind und die Mutter war mit der emotionalen Versorgung des Vaters für die Kinder weitgehend blockiert – sie haben die Mutter emotional getragen, haben funktioniert, waren artig, haben total gehorcht – ihre ganze emotionale Lebendigkeit unterdrückt. Wir wurden zu Muttersöhnen. Ich habe mit meinem Vater nie ein längeres Gespräch gehabt, er war mir immer fremd, ich habe ihn über 40 Jahre zutiefst verachtet.
Zweimal habe ich in den letzten Jahren einen Anlauf genommen und ihn wegen den Kriegserlebnissen gefragt. Er sagte, er habe das weggetan, ganz hinten in den Kopf und dort soll es bleiben. Sein Leben ist eine Kette von Arztbesuchen, Krankenhausaufenthalten und Medikamenteinnahmen. Das Verdrängte teilt sich über den Körper mit.
Ich bin bis heute latent bedrückt, verschlossen, traurig. Seit 10 Jahren bin ich Heilpraktiker und beschäftige mich mit den Hintergründen von Krankheiten und Familiengeschehen. Seit ich ihre Bücher lese, krempelt sich in mir und in meiner Arbeit eine Menge bis fast alles um. Wie mein Vater geschont werden musste, habe ich in 1000 Familienaufstellungen auch die Eltern geschont und den Kindern Vergebung gepredigt. Ich lebe in der zweiten Ehe und bekomme keine halbwegs harmonische Beziehung hin, die Sexualität hat ein Mauerblümchendasein und darunter leide ich sehr, ich will ausbrechen…….
Nun meine Frage. Ist es sinnvoll, meinem Vater „die Pistole auf die Brust„ zu setzen und zu sagen, entweder erzählst du dein Erlebnis oder du wirst mich nicht mehr sehen? Ist es sinnvoll, dass er es mir, dem Sohn erzählt?
Kurz bevor mein Bruder starb, hat er vom Internisten meines Vaters ein paar Bruchstücke erfahren – dass er mit knapp 20 Jahren im U-Boot war, was abgeschossen wurde und er der einzige Überlebende gewesen sei.
Mein jüngster Sohn musste wenige Wochen nach der Geburt (1980) am Magenpförtner operiert werden. Er ließ keine Nahrung durch, sodass er schon ganz abgemagert war. Hat das Tabu des Kriegserlebnisses eventuell Auswirkungen bis in die Enkelgeneration?
Für eine Antwort wäre ich Ihnen sehr dankbar, liebe Alice Miller. Was Sie schreiben, verstehe ich alles sehr gut, es ist mir in der Tiefe vertraut und hilft mir sehr. Bis vor fünf Jahren noch habe ich in Seminaren gesagt, ein inneres Kind gibt es nicht. Mittlerweile verstehe ich mich als ein Anwalt des Kindes. Darüber bin ich sehr froh.
Eine Veröffentlichung meines Briefes und Ihrer Antwort auf Ihrer Internetseite ist mir willkommen.
Liebe Grüße, H. R.
AM: Um Ihr Bedürfnis ernstzunehmen, brauchen Sie keine Pistole, Sie brauchen nur einen Schreiber. Ihr Ausbruch im Auto und die unendliche Verzweiflung scheinen Ihnen (zum Glück) gezeigt zu haben, wie Sie Ihr ganzes Leben unter dem Schweigen, der Verbohrtheit und dem Empathiemangel Ihres Vaters gelitten haben. Es ist vielleicht heute gar nicht mehr wichtig, WAS genau damals im Krieg passiert ist, wichtig ist, dass Ihr Vater sich weigerte zu fühlen, alles in seinem Hinterkopf begraben wollte und nicht merkte, wie Sie und Ihr Bruder darunter gelitten haben. Da Sie ebenfalls versuchten, Ihren Schmerz nicht zu fühlen und stattdessen in 1000 Familienaufstellungen Ihren Patienten Vergebung predigten, ist es gut möglich, dass Ihr Sohn ebenfalls litt, wenn er seinen ECHTEN Vater nicht erreichen konnte. Aber das hat nichts mehr mit dem Krieg zu tun, es ist die Erziehung Ihres Vaters und Ihre und vielleicht die Ihres Sohnes im gleichen Geist: Gefühle darf man nicht haben, man spricht nicht darüber, man schluckt alles herunter. Es ist ein Glück, dass Sie das zu durchschauen beginnen und nun um Ihre Wahrheit kämpfen. Sie werden Sie bekommen. Vielleicht schreiben Sie Ihrem Vater, wie Sie unter seinem Schweigen gelitten haben. Vielleicht senden Sie ihm einen Füllfederhalter und schlagen ihm vor, dass auch er Ihnen schreibt und endlich die Geschichte vom U-Boot erzählt. Oder andere Geschichten? Das kann seine Angst vor Ihrer Verurteilung abschwächen, aber vor allem sind Sie Ihrem Bedürfnis, wissen zu wollen, treu geblieben. Und DAS ist wichtig. ABSOLUT wichtig für Ihre Gesundheit und Ihr Wohlergehen.