Die blinde Wut

Die blinde Wut
Sunday 03 May 2009

Liebe Frau Miller

Sie haben Recht, und mein Satz über die Wut erscheint mir jetzt als ein Hilferuf des zweijährigen Kindes. Ein Wunsch, den der Junge in sich hatte, den damals vor 49 Jahren keiner gehört hat und später auch nicht hören wollte.

Ich war zwei Jahre alt, als ich das erste Mal von meinem Vater in aller Öffentlichkeit geohrfeigt worden bin, und das, was es an Sicherheit in meiner Welt gegeben hat, ist verschwunden. Aber niemand schien das zu bemerken oder zu interessieren. Meine Tränen nicht und auch nicht meine Körperhaltung, daß ich mich plötzlich duckte und schreckhaft war beim Anblick anderer. Ich war wütend. Meine Wut wurde niedergeschlagen und verleugnet. So dachte ich, daß Wut Wut ist, und kam auch nicht auf den Gedanken, daß es eine gute und eine schlechte Wut gibt. Ich nahm es hin, daß die blinde Wut der Erwachsenen erlaubt sei, weil niemand etwas dagegen einwandte.

Sie sind für den Jungen, der damals zwei Jahre alt gewesen ist, der erste Mensch, der sich ihm an die Seite stellt und sein Gefühl bekräftigt und bestätigt, daß der Schlag gegen seinen Kopf ein Verbrechen war, und daß er allen Grund hat, sich dagegen zu empören und auf den Täter wütend zu sein; soviel und so lange er will. Plötzlich weiß ich, daß das Kind es damals gleich gewusst hat, daß nichts mehr gut und heil ist. Aber mit Ihrem entschiedenen Eintreten für die gute Wut und gegen die blinde, hat der Zweijährige endlich eine Verbündete, die sein Gefühl mit ihm teilt. Erst jetzt kann ich das, was ich eigentlich schon immer wusste, auch verstehen.

Blinde Wut zerstört Alles, was es an Vertrauen und Nähe, an Freude und Unvoreingenommenheit und Zuversicht im Kind gibt.

Gute Wut bekräftigt die Autonomie und wehrt sich gegen die Gewalt, die einem angetan wird.

Ich grüße Sie ganz herzlich, HR

AM: Wie ist es denn möglich, dass ich die erste Person bin, die sich darüber empört, dass ein Vater sein zweilähriges Kind ohrfeigt? Hat niemand in Ihrer Umgebung ähnlich darauf reagiert? Oder haben Sie das niemandem bisher erzählt, weil Sie sich für Ihren Vater geschämt haben? Zum Glück können Sie jetzt Ihren Zorn fühlen, er ist absolut berechtigt, und er wird Sie davon befreien, die Verbrechen der anderen zu tolerieren. Diese Toleranz führt ja dazu, dass man die Verbrechen an den eigenen Kindern wiederholt, weil man es nicht wagt, die Taten der Eltern als ungeheuerlich zu bezeichnen.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet