Bei sich sein

Bei sich sein
Monday 18 September 2006

Sehr geehrte Frau Miller,
ich beziehe mich auf meinen brief vom 5. september und auf Ihre antwort. Ich habe beschrieben, wie ich in dem Buch “bonjour tristesse” von francoise sagan ein meer, eine vielzahl an verleugnungen und verdrehungen entdeckt habe und einige passagen zitiert.
Ihre bücher waren und sind für mich wie ein schlüssel. wie der schlüssel nach dem ich mein ganzes leben gesucht habe. durch sie konnte ich endlich meinen gefühlen und ahnungen trauen und erstmal waren meine ahnungen ein wissen. durch Ihre bücher konnte ich ahnungen und gefühlen worte geben und sie verstehen.
seitdem lese ich bücher anders, sehe ich menschen anders. es ist so als hätte ich einen code entschlüsselt und sehe tief in die menschen und bücher hinein. ich vergleiche es oft innerlich mit dem film “matrix” mit Keanu reeves. viele menschen, auch ich, haben ihr ganzes leben das gefühl, daß in ihnen bzw. in der welt irgendetwas ist, das sie nicht benennen können. es ist eine ahnung, ein gefühl. so wie “neo” (die hauptfigur in diesem film) sein ganzes leben etwas sucht, von dem er nicht weiß was es ist, es nur gefühlsmäßig fühlen kann. irgendwie weiß er es schon und gleichzeitig nicht. irgendwann steht er dann vor der entscheidung die wahrheit zuzulassen. er hat angst, weil er ahnt sie ist nicht schön, tut weh. der weg zur wahrheit (zur eigenen kindheit im realen leben, zu den eigenen schmerzen) ist ein extrem schmerzhafter, ungewisser. die “landung” in der echten realität ist grausam. (im film war es die welt wie sie tatsächlich war, grau, düster, hoffnungslos) sie ist bitter und kalt, so wie die erkenntnis über die eigenen kindheit, über die leiden. es ist unfaßbar, es ist kalt, es ist ernüchternd. neo muß sich übergeben als er feststellt, daßdie welt in der er bis jetzt gelebt hat, nicht echt ist, daß die wahrheit eine andere ist. doch erst jetzt hatte er das gefühl wirklich zu leben. er hat es nie bereut, denn erst jetzt war er frei. es war echt. und vor allem er hatte erst jetzt die möglichkeit die quelle des mißbrauches (die maschinen die eine künstliche welt inszenierten, die den menschen als ein computerprogramm vorgegaukelt wurde, während sie in wahrheit in einer art badewanne lagen um als energiequelle mißbraucht zu werden. sie hatten überall anschlüsse, wo ihnen quasi das computerprogramm, wie eine diskette eingelegt wurde) zu erkennen und etwas zu seiner befreiung zu unternehmen.

gleichzeitig erkannte er, daß irgendjemand ganz massiv verhindern wollte, daß die menschen die wahrheit herausfinden. im film sind es eben maschinen die die menschen mißbrauchen als energiequelle, wie eine batterie. und ebenso werden kinder mißbraucht, ihre energie wird dafür verwendet, das gebäude der lügen aufrechtzuerhalten um die eltern zu schützen. die eltern brauchen die kinder, weil sie angst habe vor ihren eigenen schmerzen. und gleichzeitig wollen sie, und alle die angst haben vor ihren eigenen schmerzen, unbedingt verhindern, daß die kinder die wahrheit sehen, denn das würde bedeuten, daß auch sie ihre wahrheit sehen müssten, und das glauben sie nicht zu können, nicht zu ertragen.

als neo, die realität gesehen und verstanden hat, konnte er die “welt der verleugnung” also die nicht reale welt im film, ent-codiert sehen (also er hatte den code entschlüsselt und sah statt dem vorgegaukelten, die codes des computerprogrammes). vorher hatte er nur ein gefühl einer suche, daß irgendetwas ist, was so knapp so deutlich vor ihm ist und er es trotzdem nicht sieht. danach konnte er sehen.

genauso fühle ich mich jetzt wenn ich bücher lese, wie “bonjour tristesse” ich lese sie jetzt ganz anders. sehend, wissend, befreit.

die erkenntnis um die wahrheit war bitter und schmerzhaft, doch gleichzeitig die befreiung. es tut weh zu erkennen, daß alle gefühle, von denen einem früher gesagt wurde, man hätte sie sich eingebildet, real sind. (also mißhandlungen, demütigungen, allein gelassen werden) aber gleichzeitig fühle ich mich zum ersten mal in meinem leben frei und echt.

ich danke Ihnen dafür.

Alles Liebe
V

AM: Vielen Dank für Ihren einleuchtenden Brief. Ich bin so froh, dass Sie es so gut und nachfühlbar schildern konnten, wie man sich fühlt, wenn man dem Drang, die Wahrheit zu sehen und zu fühlen, endlich nachgibt. Das kann man erst feststellen, wenn man es getan hat, wenn man die Angst vor der Strafe der Eltern für das Sehen der Wahrheit überwunden hat. Aber Sie zeigen, dass dies möglich ist und dass dann statt Strafe eine große Befreiung und Bereicherung eintritt. Die Angst ist IMMER begründet, was die VERGANGENHEIT betrifft. Man muss aber jedes Mal, wenn sie akut auftaucht, herausfinden, inwiefern sie für heute NICHT berechtigt ist. Dann erscheint auch ein Stück der Wahrheit, die so erlösend ist. Ich kenne den Film “Matrix” nicht, aber nach Ihrer Beschreibung scheint er genau das zu schildern.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet