Die ungewöhnliche Klarheit
Thursday 14 January 2010
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Sie können sich gar nicht vorstellen, wie überrascht ich war, daß Sie mir zurückgeschrieben haben.
Ich habe noch einmal überprüft, was sie mich gefragt haben und stelle fest, daß ich Ihr erstes Buch mit sechzehn gelesen habe. Mit vierzehn hatte ich Zugang zur Erwachsenenbibliothek und habe angefangen Bücher über Psychologie zu lesen. Vieles habe ich nicht verstanden, aber doch soviel, daß ich wußte, wonach ich suchen wollte. Ich habe auch meiner ungezielten Suche alles gelesen, was dort im Angebot war. Nach einer Weile war mir schon klar, was eher billig und trivial war oder schlicht verlogen. Es war im nNachhinein kein Wunder, daß ich Ihre Bücher, als Offenbarung empfand. Vieles vorher war entweder kalt, steril und sachlich oder schlicht eine Zumutung (ich habe da speziell christliche Familienratgeber im Gedächtnis, die hätten auch jüdischen Menschen geraten, daß man Nazis auch irgendwann einmal vergeben und vergessen müßte UND ENDLICH RUHE GIBT). Aber auch das, was ich von Sigmund Freud gelesen habe, freundlich ausgedrückt, halte ich ihn für überschätzt.
Als ich klein war, war meine Mutter mit einem prügelnden und jähzornigen Alkoholiker verheiratet.
Ich bin damals voll angekleidet zum Schlafen gelegt worden, damit wir, wenn er nach Hause käme, sofort auf den Wäscheboden flüchten könnten. Wir lebten in einem 8-Parteien-Haus. Ich kann mir nicht vorstellen, daß niemand etwas mitbekommen hat.
Einmal lag ich bei meiner Mutter im Ehebett, als er plötzlich nach Hause kam. Er warf sich über meine Mutter und hat sie vergewaltigt, während ich ebenfalls unter ihm lag. Niemand kann mir erzählen, er hätte es nicht mindestens billigend in Kauf genommen.
Meine Mutter hat auf Fragen gesagt, ich würde spinnen.
Im Mietshaus wurde mein Vater in Uniform gegrüßt, unsere Blicke wurden gemieden. Meine Mutter hat sich irgendwann scheiden lassen.
Mein Vater soll gedroht haben, mich irgenwann abzufangen und “mich zur Frau zu machen”. Ich weiß nur, daß ich eine Zeitlang vom Kindergarten abgeholt wurde und nicht allein gehen durfte.
Vor meiner Einschulung hat meine Mutter meinen Adoptivvater kennengelernt und dann bald geheiratet. Er hat mich am Tag der standesamtlichen Trauung adoptiert. Dafür mußte ich immer dankbar sein.
Als mein Adoptivvater, den ich ab jetzt als “Vater” bezeichnen werde, bei meinen Großeltern um die Hand der Tochter anhielt, hat sie gesagt, er wolle sich doch nicht an sich selbst versündigen, er ein Arzt und sie eine Frau mit Makel- geschieden mit Kind!
Meine Mutter schien ihm attraktiv, weil sie hübsch, einfach, anpackend und lustig war. Er war intellektuell, konnte altgriechisch und war belesen. Seine Bücher standen im Bücherregal vorn, dahinter in zweiter Reihe die Konsalik-Gesamtausgabe meiner Mutter, derer er sich schämte. Er schämte sich allerdings nicht für eine signierte Ausgabe von “Mein Kampf”. Diese war “eine wertvolle Antiquität”. Ich weiß, daß er intellektuell den Nationalsozialismus ablehnte, aber er hatte kein Problem, das Haßbuch eines der infamsten Menschen der Geschichte mit dessen Signatur gegenüber vom Familiensofa stehen zu haben. Ich kann nicht verstehen, wie man das Böse in sein Wohnzimmer holt. Es als “wertvolle Antiquität” zu sehen, ist das Gleiche, als wenn man Hitlers Opfern ins Gesicht spuckt. So wird man zum Mittäter.
Mein Großvater väterlicherseits war bei der Waffen-SS und seine Frau war Kindergärtnerin bei Kraft-durch-Freude. Es war mir verboten, danach zu fragen, das “stand mir nicht zu, das verbot der Respekt”. Es wurde einfach totgeschwiegen.
Das Vorbild meines Vaters war Albert Schweitzer.
Als ich zehn wurde, wurde mein Bruder geboren (“meinem Vater zuliebe”), meine Mutter wollte kein zweites Kind, ich hätte ihr Leben schon genug versaut.
Zu der Zeit hatte ich immer schon viel gelesen, damit konnte ich meine Familie ausblenden, “die sich immer nur meinetwegen stritt”. Im Alter von zehn hatte ich Shakespeare für Kinder gelesen und fing nun an, die Theaterstücke aus den Reclam-Heften meines Vaters zu lesen. Dafür wurde ich von ihm gelobt und beachtet.
Ich versuchte selbst, kleine Abenteuerbücher zu schreiben. Mein Hauptanliegen war dabei, ein ganzes Heft vollzuschreiben, damit es eben auch ein richtiges Buch würde. Egal wie wertvoll nun die Ergebnisse waren, mein Vater fühlte sich tatsächlich bemüßigt, einem Kind nachdrücklich zu erklären, daß es eben nicht einfach mal ein Buch schreiben könne, das hätte schon so mancher versucht und es wären noch ganz andere daran gescheitert.
Ich hatte in jedem Aufsatz eine Eins und später hat mich einmal eine Deutschlehrerin beiseitegenommen, um mir zu sagen, daß ich selbstverständlich eine Eins bekäme, aber es wäre ihr wichtig, mir zu sagen, daß sie wisse, daß ich ihr mit meinem Können überlegen sei. Sie empfände es als Anmaßung, mich zu benoten. Ich ging wie auf Wolken und sie war sooo nett!!
Als ich mit Handarbeiten anfing, ermahnte mich mein Vater, nichts zu beginnen, was ich nicht könnte! Ich habe mich nicht beirren lassen und im Laufe meiner Jugend Handarbeiten hergestellt, die ich wundervoll fand.
Die Domäne meiner Mutter war das selbsterlernte Nähen. Dafür ließ Sie sich gern ausgiebig loben. Sie war auch wirklich klasse.
Ich habe Sie lange Zeit angebettelt, es mir beizubringen, schließlich ließ sie sich erweichen und ich habe mit 13/ 14 Jahren ein Kleid genäht.
Es sah gut aus, hatte wackelige Nähte und einen beulenden Reißverschluß, das fiel aber angezogen nicht weiter auf. Ich war stolz auf mich.
Meine Mutter hatte Besuch und hat mich mit lächelndem Gesicht nach vorn gerufen, ich solle doch mal mein selbstgenähtes Kleid vorführen.
Der Besuch hat dann gesagt “prima, toll” und dann hat meine meine Mutter gezischt: “Und jetzt paß mal auf!”
Ich mußte das Kleid vor ihrer Freundin (!!) ausziehen, es auf links wenden und dann wurde der Freundin gesagt, was das für eine schlampige Art sei, alle Nähte seien krumm und schief, es sei nicht ordentlich versäubert, der Ausschnitt sei nicht ordentlich belegt und der Reißverschluß sei
“grauenhaft”.
Ich war wie betäubt und konnte nichts sagen.Die Freundin hat gelacht.
Ich war nackt und trug nur eine Unterhose.
Ich hatte noch nie zuvor irgendetwas genäht. In Wirklichkeit war ich bestimmt begabt, ich kenne Erwachsene, die sich vor der Komplexität eines
einfachen Schnittmusters scheuen.
Die Freundin konnte gar nicht nähen. Aber darum ging es ja auch nicht.
Ich bin diplomierte Modedesignerin. Nicht weil ich es meiner Mutter beweisen wollte, es war einfach der Weg, mir von anderen das Wissen vermitteln zu lassen, daß sie mir vorenthalten wollte. Und eben die Liebe zum Entwurf.
Meine Mutter war auch eine gute Köchin, sie hat es mich nicht lernen lassen. Meine Aufgabe war es, die Küche währenddessen und danach zu säubern.
Ich habe mir später selbst das Kochen beigebracht. Es ist mir sehr wichtig, mir jedes Wissen zu erwerben, von dem ich glaube, daß ich es brauche. Wenn mir heute jemand sagt, er würde sich gern eine Jacke nähen, zeige ich ihm, wie das geht. Es ist nicht wichtig, erst einmal ein Geschirrtuch zu nähen, nach dem sich keiner sehnt. Wenn die Jacke so verführerisch ist, wird man durchhalten und vom Ergebnis überwältigt sein. Der Änfänger sieht zwar die “Unvollkommenheit” seines Erstingswerks, ist aber voller Ehrfurcht gegenüber seinen Fähigkeiten, von denen er so nicht glaubte, sie bereits zu haben. Seine Freude überträgt sich eins zu eins auf mich. Das würde ich mir versagen, wenn ich mein Wissen eifersüchtig hüten müßte.
Als mein Bruder geboren war, war die ganze Verwandschaft aus dem Häuschen.
Mein Problem wurde, daß ich nicht aus dem Haus war.
Inzwischen hatte ich ein neues Zimmer. Mit einem eigenen Waschbecken. Es wurde erwartet, daß ich mich nun dort wusch. Direkt angrenzend war das Badezimmer der Familie. Ich mußte die Gästetoilette am anderen Ende des Haus benutzen. Zu meinen Aufgaben gehörte es, Badezimmer und Gästetoilette zu putzen.
Immer noch hatte ich gute Noten und oft wurde gesagt, wie intelligent ich doch sei. Meine Eltern lachten dann zur Entgegnung: “Ja, das ist sie allerdings und genauso bösartig.”
Inzwischen verswandten beide viel Enthusiasmus darauf, mir zu erzählen, wie häßlich ich doch sei; wie eine Hexe. Kinder würden schreiend vor mir weglaufen.
Natürlich sehe ich ganz normal aus.
Irgendwann beim Abendessen sagte mein Vater einmal: “Bei ihrem Aussehen, können wir nur hoffen, daß sich irgendein Intellektueller findet, dem es nichts ausmacht, wie häßlich sie ist.
Außerdem haben sich beide gern über meine traurigen, kleinen Brüste lustig gemacht. Ich war damals noch nicht einmal konfirmiert, empfand ihre Reden aber nicht nur als demütigend sondern wußte auch, daß es einem Kind gegenüber unstatthaft ist, unsittlich.
Sie haben mir damals einen schwarzen Bügel-BH mitgebracht aus Spitze, viel zu groß, so daß er lose an mir hing; den mußte ich Ihnen vorfüren und sie haben mich dann verspottet.
Es gab damals überhaupt keinen Grund, mir überhaupt einen BH zu kaufen, denn ich hatte nicht einmal einen Brustansatz. Mein Körper war noch ein Kind, den man in sexy Reizwäsche gezwungen hat, um ihn dann zu verspotten.
Danach begann der systematische Terror.
Mein Bruder hatte ein Babyshampoo mit einer kleinen Spielzeugfigur, die in diesem Shampoo schwamm. Als ich fragte, ob ich die Figur haben dürfte, wurde mir gesagt, daß erst einmal die Flasche leer werden müßte und dann – vielleicht.
Kurz darauf wurde ich abends nach vorn gerufen und freundlich gefragt, ob ich die Figur immer noch haben wollte. Ich hab mich gefreut und sollte dann die Flasche aus dem Badezimmer holen. Dort war ich total erschrocken, weil die Flasche zwar noch voll war, aber die Figur war weg.
Ich bin mit der Flasche ganz aufgeregt nach vorn gelaufen, meine Mutter hat sie sich ganz genau angesehen und sie dann an meinen Vater weitergereicht. Dann fragten sie mich, ob ich die Figur genommen hätte, ich solle die Wahrheit sagen.
Mir ist ganz schlecht geworden, ich hab ganz dringlich gesagt, daß ich es nicht war. Ich war ganz verwirrt, das Shampoo war ja noch darin.
Dann haben meine Eltern gesagt, daß wir jetzt alle mal überlegen müßten. Wann ich die Figur denn das letzte Mal gesehen hätte?
In meiner Aufregung sagte ich, eben noch.
“Ja, wann denn genau?”
Meine Panik wuchs. “Vor einer Viertelstunde!”
Und dann schnappte die Falle zu. Sie haben sich vor mir aufgebaut: daran könne man jetzt ganz deutlich sehen, was für ein verlogenes Miststück ich sei. Sie selbst hätten nämlich die Figur schon nachmittags und nicht erst vor einer Viertelstunde herausgenommen, weil man sich das schon genauso vorgestellt hätte (!), wie es jetzt abgelaufen wäre, nämlich daß ich rumlügen würde, um nur ja die Schuld von mir abzuwälzen. Jetzt wäre bewiesen, daß ich eine Lügnerin sei, der niemand glauben könne.
Ich wußte, daß sie mich reingelegt hatten. Das fühlte sich so ungeheuerlich an, daß ich mich im Weinen krümmte; ich schrie im Weinen. Dann muße ich mich für meine Lügen entschuldigen.
Wenn ich später mit meinen Eltern darüber sprechen wollte, hieß es, ich hätte alles nur erfunden und sei verrückt. Ich wolle sie nur schlechtmachen, infam und niederträchtig wie ich sei, und man müsse sich vor mir schützen. Manchmal lachten sie auch wissend.
Überhaupt wurde bei uns gern gelacht, meistens über mich.
Wie ungeschickt und trottelig ich sei, “unser kleiner Trampel”, “unser Idiot”. Wenn ich dann weinte, wurde mir gesagt, daß ich völlig humorlos sei und mit meinem verheulten Gesicht noch häßlicher.
All der Haß ging von meiner Mutter aus, mein Vater war der Mitläufer. Das Wesen meiner Mutter halte ich für abartig, mein Vater ist ein feiger Mensch, der sich für keine Schandtat an seiner Adoptivtochter zu schade war. Obwohl er sich selbst für Albert Scheitzer hielt.
Natürlich hat mir niemand geglaubt.
Eines Tage sollte ich auf einem Familientreffen neben dem Bruder meiner Mutter Platz nehmen, ich wollte plötzlich nicht. Ich wußte, daß er als junger Mann mir einmal als ich zwischen fünf und sechs war gesagt hatte, ich solle mich ausziehen, als er mit mir allein war.
Er hat dann seinen Penis an meiner Scham gerieben. Danach hat er gesagt, wenn ich etwas sage, wird es keiner glauben und danach würde er mich umbringen.
Bei diesem Familientreffen (ich war immer noch nicht konfirmiert), habe ich mich also geweigert, neben ihm zu sitzen; ich konnte das plötzlich nicht. Und weil sie mich alle einfach zwingen wollten, habe ich es gesagt.
Meine Mutter hat mir eine gescheuert und meine Großmutter hat mich angeschrieen, ich solle nicht so dreckige Lügen erzählen. Ich mußte in der Küche sitzen und alle anderen haben im Wohnzimmer Kaffe getrunken und Kuchen gegessen und sich nett unterhalten.
Mir ist völlig unverständlich, wie das eigentlich gehen kann. Auch wenn wirklich keiner in so einer Situation so genau weiß, wie er sich jetzt verhalten soll, so kann doch kein fühlender Mensch danach heiter Kaffetrinken. Er müßte doch jetzt sowieso zuallererst zu dem Kind gehen, daß völlig allein und verbannt in der Küche sitzt.
Es wurde nie wieder darüber gesprochen.
Meine Mutter hat nie gesagt, sie wünschte, ich wäre nie geboren.
Sie hat mir immer wieder gesagt, sie wünschte, sie könnte mich umbringen, mich miese Ratte.
Als mein Vater einmal berufsbedingt fort war, sollte ich bei ihr im Ehebett schlafen. Vor dem Lichtausmachen ging sie in die Küche und kam mit dem großen Messer zurück, das sie auf ihren Nachttisch legte. Auf die Frage, was sie denn damit vorhätte, sagte sie: “Nichts, nur falls Ratten ins Schlafzimmer kommen.”
Ich habe gewarte, bis sie eingeschlafen war und bin dann in mein Zimmer geschlichen und habe abgeschlossen. Ich habe mich nicht gefürchtet. Mir war klar, daß sie mich töten wollte und daß mir nur mein Verstand helfen konnte. Erst als erwachsene Frau konnte ich dazu Gefühle haben. Ich glaube, daß Menschen in Lebensgefahr einen ganz unverstellten Blick für die Gefahr bekommen können und sich Emotionen, die sie dem Schmerz ausliefern könnten in dem Moment nicht leisten können, es geht nur noch ums Überleben.
Danach wurde mir der Schlüssel zu meiner Zimmertür weggenommen, ich hätte kein Recht, mich von der Familie abzusondern.
In dieser Zeit wurde festgelegt, daß ich meine Wäsche nicht mehr zur Familienwäsche legen durfte. Ich mußte sie separat waschen. Natürlich durfte ich für das Bischen nicht die Waschmaschine anwerfen, also hatte ich sie von Hand zu waschen.
Immer öfter kamen sie in mein Zimmer: “Räumkommando!”
Dann wurden alle Schubladen aufgerissen, der Inhalt auf den Boden gekippt, der Inhalt des Kleiderschrankes wurde ebenfalls auf den Boden geworfen, die Schreitischplatte wurde mit einer Armbewegung abgefegt und der Inhalt meiner Regale ebenfalls. “Guck dir mal an, in was für einem Saustall du lebst. Aufräumen, Frolleinchen!”
Davor war es natürlich ein normales Zimmer. Ich weinte dann und zitterte am ganzen Körper. “Deine Krokodilstränen kannst du dir sparen, gaub ja nicht, daß du uns damit erpressen kannst, du hinterhältiges…(Schimpfwort freier Wahl einfügen).”
Wenn mein kleiner Bruder manchmal gesagt hat “komm, ich helfe dir”, wurde ihm gesagt, er solle sich nicht von mir täuschen lassen, es würde mir genau recht geschehen, er solle lieber im Wohnzimmer bei meinen Eltern spielen.
Es fiel mir inzwischen schwerer in der Schule, weil ich mich oft nur noch wie ein Ding fühlte. Lehrer, die mich ansprachen, sagten danach eilig, ich würde dramatisieren. Man würde meine Eltern doch kennen und ich hätte die Besten, ich müsse mich anstrengen und zu einem gutenVerhältnis eben auch etwas beitragen.
Statt nachts wie als kleines Kind ängstlich auf meinen betrunkenen (leiblichen) Vater zu horchen, horchte ich nun auf die lauter werdenden Stimmen meiner Eltern im Eßzimmer, oft auf Ihr bedrohliches Gelächter.
Irgendwann schlief ich ein. Dann wurde die Zimmertür aufgestoßen, auf den Lichtschalter geschlagen, die Decke weggerissen: “Aufstehen, Frolleinchen! Ab nach vorn!”
Dort saß ich dann im Nachthemd, die Augen vom hellen Licht geblendet, zitternd und sie schrieen mich zusammen, wegen irgendwelcher Vergehen, eigentlich meistens für meine Persönlichkeit an sich, wahrscheinlich einfach für meine Existenz.
Zwischendurch mußte ich mich “wenigstens etwas nützlich machen” und ihnen Getränke aus der Küche holen. Es ist mir wichtig, klarzustellen, daß meine Eltern nur sehr maßvoll Alkohol getrunken haben, sie waren immer im Vollbesitz ihres Verstandes.
Dann ging das Verhör weiter. Wenn ich irgendwann so fertig war, daß ich nicht einmal mehr weinen konnte, würden sie noch wütender: “Ja, halt du dich nur fein raus, du verstocktes Miststück, Madame ist sich ja zu fein, mit uns zu reden, das hat sie nämlich nicht nötig, usw., usw.”
“Hau ab in dein Zimmer, daß du uns aus den Augen kommst!”
Ich weiß gar nicht, wie ich es am nächsten Tag in die Schule geschafft habe. Das passierte immer wieder.
Obwohl ich immer noch gute Noten hatte, war es meinen Eltern überaus wichtig, mir einzureden, wie dumm ich doch wäre. Als ich dann begann Ihre Bücher zu lesen, liebe Frau Miller, wußte ich sofort, daß Sie wußten, was ich wie auch andere erlebten. Und Sie haben gesagt: “JA; ES IST WAHR. UND ES IST UNRECHT!”
Das hat mir so viel Kraft gegeben.
Ich habe in meinem Zimmer meinen Eltern dann Briefe geschrieben, weil es mir verboten war zu weinen, wenn ich ihnen gegenüberstand, ich konnte aber nicht mehr anders, als furchtbar zu zittern und zu weinen. Also versuchte ich schriftlich, ganz vorsichtig, ganz zurückhaltend, ihnen zu erklären, was ich fühlte, versicherte sie meiner Liebe und bat sie, daß wir zusammen über alles einmal reden. Daß sie doch an meinen Noten sähen, daß ich nicht dumm sei, ich nicht hinterhältig sei sondern sie doch lieben würde.
Alle diese Briefe wurden nur verlacht. Ich habe es dennoch wieder und wieder versucht.
Dann ist etwas passiert, daß ich als so bodenlos grausam empfinde, daß es mich noch heute beim Gedanken daran zittern läßt. Mein Gesicht wird dann ganz heiß und es ist, als wenn ich keine Luft mehr bekomme. Meine Augen brennen.
Alle diese Briefe hat mein Vater in einem Aktenordner abgeheftet, den er über mich angelegt hatte. Er hat ihn mir dann irgendwann gezeigt und gesagt, das hätte er nun tun müssen, um die Familie vor mir zu schützen. Dazu noch hätte er einem Kollegen alle dies Briefe gezeigt -ob ich eigentlich den Unterschied zwischen einem Psychologen und einem Psychiater kennen würde- nun, dieser Kollege sei Psychiater. Dieser habe nach “Studium” meiner Briefe, mitgeteilt, daß ihm fachlich und von Amts wegen nichts anderes übrig bliebe, als mich umgehend zwangseinzuweisen.
Aus einem Abstand von mindestens einem Meter “durfte” ich dann einen Blick auf meine abgehefteten Briefe werfen. Sie waren über und über mit
roten Anmerkungen Kreisen und Pfeilen versehen.
Mein Vater sagte mir dann, er wisse zwar nicht warum, aber ich hätte es nur einer Abmachung unter Kollegen zu verdanken, weil er sich noch einmal für mich eingesetzt hätte, daß sie mich noch nicht abgeholt hätten. Ich hätte es also schon wieder einmal mit meiner Perfidie dazu gebracht, daß zwei Unschuldige ihren guten Ruf, einer sogar sein Amt für mich aufs Spiel setzen müßten.
Ab da ist etwas zerbrochen.
Ich habe die Ungeheuerlichkeit gesehen und gleichzeitigt geleugnet. Ich habe bezweifelt, daß ein Psychiater, sich für so etwas hergibt, aber der Arzt, mit dem ich Leben mußte, tat soetwas ja auch. Ich hatte entsetzliche Angst, daß sie, um mich loszuwerden, nicht davor zurückschrecken würden, mich in die Psychiatrie einweisen zu lassen und Helfershelfer dafür zu finden. Wer hätte für mich und meine geistige Gesundheit gesprochen?
Seitdem habe ich in dreißig Jahren nie mehr einen Brief persönlichen Inhalts schreiben können. Ich habe mit meinem Mann gesprochen, liebe Frau Miller, und er, der er kein einziges Buch von Ihnen kennt, hat mir gesagt: “Schreib ihr. Du kannst ihr trauen. Und wenn Sie dir so geholfen hat, hat sie es verdient.”
Meine Eltern haben dann angefangen systematisch Mitschüler oder deren Eltern abzufangen und ihnen sonstwas über mich zu erzählen.
Viele mochten dann nichts mehr zu tun haben. Außerdem bezweifle ich, daß ich zu der Zeit ein unbeschwerter, umgänglicher und attraktiver Mensch in den Augen anderer war. Das, was ich erlebt hatte, hatte mich und mein Verhalten sicherlich auch seltsam gemacht.
Zwischendurch wußte ich wieder, was ich wußte.
Meine Mutter schrie mich einmal an, daß ich aus der Gosse käme, genau wie mein leiblicher Vater und daß ich auch genau dort hingehöre und nicht in ihr Haus. Mit absoluter Klarheit entgegnete ich ihr, daß nicht ich mit diesem Mann ins Bett gestiegen wäre sondern sie.
Sie ist komplett ausgerastet.
Als ich eines Tages von der Schule kam, fand ich das Fenster in meinem Zimmer weit geöffnet und draußen im Garten winkte mir meine Mutter fröhlich zu. Sie stand vor einem brennenden Haufen. Das war meine Kleidung, auch geliehene Sachen von Freundinnen waren darunter.
“Ich verbrenne hier deine Klamotten, dich darf ich ja leider nicht verbrennen!”
Als ich meinen Freundinnen sagen mußte, daß meine Mutter deren Sachen auch verbrannt hatte, habe ich mich unglaublich geschämt. Meine Freundinnen waren aber eher sauer auf mich. Sie haben es zuhause bestimmt erzählt, man hat aber nicht meine Eltern gemieden sondern mich.
Als ich achtzehn wurde, haben mir meine Eltern das Taschengeld “erhöht”, mit der Auflage, ich müsse nun alles selbst bezahlen, um zu sehen, wie das wäre. Ich sollte von nun an die Monatskarte, die Schulsachen, Shampoo, Seife, Kleidung und Sonstiges selbst bezahlen. Von ihnen könne ich keinen weiteren Pfennig erwarten. Das Geld reichte nicht einmal für Monatskarte und Schulsachen. ich bin dann von einem Ende der Stadt zum anderen Ende zum Gymnasium gelaufen. Manchmal haben mich Mitschüler in ihren Autos mitgenommen, dann habe ich mich geschämt. Es stand irgendwie im Raum, daß ich wohl doch ganz schön übel sein müßte, wenn meine Eltern sich gezwungen sähen, so an mir handeln zu müssen(!).
Einmal mußte eine volljährige Mitschülerin mich wieder von ihrer Geburtstagsparty ausladen, ihre Mutter hätte es verlangt. Ich bin dann zu ihr nach Hause gefahren und habe die Mutter um ein Gespräch gebeten, sie wollte mich zunächst nicht nicht ins Haus lassen, aber dann habe ich ihr wohl auch irgendwie leid getan, als ich am ganzen Körper zitternd vor ihr stand. In der Küche meinte sie, meine Mutter hätte sie im Supermarkt abgepaßt, sich ihr vorgestellt und ihr ohne weitere Einleitung erzählt, was für ein verkommenes Subjekt ich sei, man müsse gute Kinder vor mir schützen, ich wäre nämlich drogensüchtig und hätte schon mehrfach abgetrieben.
Zu dem Zeitpunkt war ich noch Jungfrau.
Ich habe versucht, ihr zu sagen, daß ich genauso ordentlich bin, wie ihre eigene Tochter auch. Daraufhin hat diese Mutter sehr gezögertt und gemeint, aber es müsse doch war sein, denn keine Mutter würde jemals so etwas Schreckliches über ihre Tochter sagen, wenn nicht die Sorge um andere sie dazu zwingen würde.
Aber irgendwie hat sie mir dann doch geglaubt, auch weil ihre beiden Kinder ihr gesagt haben, daß ich okay wäre und meine Eltern irgendwie schräg.
Noch Jahre später hat mir jemand völlig Fremdes in einer Kneipe einmal gesagt, es wäre doch allen allgemein bekannt, daß ich mehrfach abgetrieben hätte. Diese Frau hatte überhaupt keine Hemmungen mich dessen zu beschuldigen.
Bei Erhalt der Zeugnisse des 11. Jahrgangs machten meine Eltern ein Riesentheater darum, daß ich nur einen Durchschnitt von 2,8 hatte. Heute wundere ich mich, daß ich diesen Durchschnitt überhaupt unter den damaligen Bedingungen erreicht habe.
Mitten in dieser Szene klingelte es und mein damaliger Freund, der schon studierte kam herein. Er sah, wie ich mich weinend auf Knien auf dem Boden krümmte und SCHRIE!
Er hob mich auf, nahm mich in den Arm. Meine Eltern lachten nur und meinten, er solle sich nur nicht von meinem Theaterspiel einwickeln lassen.
Ich habe mich so geschämt, aber er sagte ihnen, daß er soetwas Abscheuliches noch nie gesehen hätte, ob sie gar nicht wüßten, was sie an mir hätten?
Meine Eltern wurden immer wütender, als sie sahen, daß er zu mir hielt und meinten dann: “Wenn sie glauben, daß sie sich mit diesem Stück Mist belasten wollen, dann nehmen sie sie gleich mit. Sie hat in unserem Haus nichts mehr zu suchen.”
Ich habe dann ein paar Sachen in eine Tasche gepackt und und meine Schultasche, dann hat er mich mit in seine Wohnung genommen, die etwa 40km entfernt war.
Als ich das nächste mal nach Hause gekommen bin, war mein Zimmer leergeräumt, es gehörte jetzt meinem Bruder. In seinem ehemaligen Zimmer hatte meine Mutter sich ein Nähstudio eingerichtet. Das dauerte alles keine zwei Wochen und sie hat es mir mit Genuß vorgeführt.
Ich besitze kein einziges Spielzeug aus meiner Kindheit auch kein Buch, weil sie alles vernichtet und weggegeben hat oder mich schon als Kind ständig gezwungen hat, alles den “armen Heimkindern” zu geben, auch Sachen, die ich sehr liebte.
Ich habe dann angefangen, nach der Schule Nachhilfe zu geben und abends in einer Restaurantküche in der Nähe meines Gymnasiums abzuwaschen. Ausgerechnet dort, wo besagte Freundin meiner Mutter die Geschäftsführerin war. Aber es gab nicht so viel Auswahl und in der angrenzenden Diskothek, die auch zum selben Betrieb gehörte arbeiteten am Wochenende auch Schulkolleginnen. Sie verdienten dort mehr Geld als ich in der Küche, deshalb bewarb ich mich auch um einen Tresenjob. Die Antwort der Freundin meiner Mutter war, dazu sei ich zu häßlich, ihr würden dann sämtliche Gäste weglaufen.
Ich hielt mich irgendwann wirklich für so häßlich.
Ich brauchte das dort verdiente Geld, da meine Eltern gedroht hatten, das psychiatrische Gutachten gegen mich zu verwenden, falls ich es wagen würde, sie zu verklagen. Ich arbeitete nicht wie die anderen am Wochenende sondern jeden Tag.
Die Mutter meiner Mutter hat dann gemeint, daß ich 300 DM im Monat kriegen müßte, würden es die Eltern nicht geben, würde sie es halt tun müssen. Wie ein Kind nur so schlecht werden könne…
Ob sie wohl wirklich so ahnungslos war?
Sie hat mir immer ein gewisses Küchenlied vorgesungen. Darin geht es um ein Mädchen, daß von seiner Mutter in den Keller gesperrt wird, als diese einen neuen Mann gefunden hat. Das Kind spricht immer aus dem Keller und richtet seine Not an die Mutter.
Die Mutter läßt es im Keller verhungern.
Meine Eltern hielten mir immer wieder vor, daß ich in der Gosse landen würde. Ich hätte weder einen Realschulabschluß noch einen Hauptschulabschluß. Natürlich hatte ich auf meinem Weg zum Abitur bereits beide Abschlüsse, so sagt es das Gesetz. Aber das zählte nicht.
Mein Religionslehrer hat meine Mutter in dieser Zeit einmal spontan aufgesucht und sehr vorsichtig erklärt, was sein Anliegen ist, sie hat ihn bestens gelaunt unterbrochen, ob er einen Kaffe wünschte; in jeder Familie gäbe es einen Idioten und hier wäre es eben die Tochter.
Er war wie erstarrt und hat entgegnet, daß ich eine überaus kluge und brilliante junge Frau wäre, eine Tochter für die man sich glücklich schätzen könnne.
“Wenn das ihr Enst sein sollte, dann sind sie eben auch ein Idiot.”
Er ist dann gegangen und ich stand daneben und weinte vor Scham.
In der Schule hat er mir dann noch einmal gesagt, daß er mir leider nicht helfen könne.
Mein Freund arbeitete neben seinem Studium in den Semesterferien in der Landwirtschaft. Von seinem Ersparten kaufte er mir ein Auto, damit ich den weiten Weg zur Schule und zur Arbeit fahren konnte. Es gab keine Anbindung durch öffentliche Verkehrsmittel. Er sagte mir, daß er mir bis zum Abitur helfen werde, er wolle auf keinen Fall, daß ich unter meinen Möglichkeiten bliebe.
Mitten in den schriftlichen Prüfungen riefen meine Eltern abends an, ich war allein zuhause. Sie bedrohten mich, schrieen mich an, ich hätte sofort bei ihnen vorstellig zu werden, sie hätten etwas mit mir zu besprechen. Was? Das ginge mich gar nichts an, das würde ich schon noch erfahren, wenn ich dort wäre.
Ich weigerte mich, begründete dies mit dem Lernen für die morgendliche Prüfung. Sie sagten, wenn ich nicht “sofort meinen Arsch bewegen würde”, kämen sie mich holen.
Als mein Freund nach Hause kam, fand er mich auf der eiskalten Bodentreppe. Ich schrie nur noch, als er zu mir kam, weil ich glaubte, meine Eltern kämen mich holen.
Er hat dann den Notarzt gerufen, der hohes Fieber feststellte und mir eine Spritze zur Beruhigung gab.
Mein Freund war außer sich und hat sofort meine Eltern vom Telefon neben unserem Bett aus angerufen, ihnen untersagt, jemals wieder bei ihm anzurufen und daß er sie das nächste Mal anzeigen würde.
Der anwesende Notarzt war ein Kollege meines Vaters.
Als ich auf meine Abiturnoten wartete, ließen meine Eltern mich wissen, daß sie aus zuverlässiger Quelle wüßten, daß ich durchgefallen sei.
Ich machte mir solche Sorgen.
Angeblich war die zuverlässige Quelle die Freundin meiner Mutter. Ironischerweise ist deren Sohn durchgefallen.
Ich hatte bestanden.
Als ich meinen Eltern mein Reifezeugnis vorlegte, schlug meine Mutter auf das Dokument: “Was soll dieser Wisch hier, wann DU Abitur hast, das sagen WIR dir!”
Zu der Zeit verließ mich mein Freund.
Ich bin ihm dankbar, daß er sein Versprechen gehalten ha, mir bis zum Abitur beizustehen und mir ein verläßlicher und schützender Freund gewesen zu sein.
Nach der Schule strichen mir meine Eltern sofort den wenigen Unterhalt, deshalb nahm ich eine Stelle an der Autobahnraststätte als Küchenhilfe im Schichtdienst an, weil ich dort auch im Winterhalbjahr und nicht nur während der Tourismussaison bleiben konnte.
Natürlich mußte ich mir jetzt auch ein eigenes Zimmer suchen. Ich hatte keine Ersparnisse mehr, kein einziges Möbel, nicht einmal eine Matratze.
Mein ehemaliger Freund hatte mir deswegen noch Hilfe angeboten, aber ich fand, er hatte schon so viel für mich getan.
Ich überlegte, meine Mutter zu bitten, mir einhundert DM zu leihen, bis ich sie von meinem ersten Gehalt am Ende des Monats zurückzahlen könne. Am Telefon sagte ich ihr, daß ich von dem Geld eine Matratze und Auslegeware für eine DM pro Quadratmeter kaufen wolle, da das Zimmer nur einen nackten Betonboden habe.
Sie erwiderte kühl, so fühle es sich eben an, wenn man mittellos sei.
Tags darauf rief sie zurück, sie habe eine tolle Überraschung für mich und auch schon für uns Kaffee gekocht, ich solle schnell vorbeikommen.
Es mag sich dumm anhören, aber ich fuhr hin.
Sie zeigte mir strahlend den neuen Teppichboden im Zimmer meines Bruders, den sie am selben Morgen noch hatte verlegen lassen. Er hatte große glitzernde Silbersterne auf blauem Velours. Sie erzählte mir TRIUMPHIEREND, daß dieser Teppichboden fünfhundert DM gekostet hatte.
Damit war ich entlassen.
Als ich studieren wollte sagten meine Eltern: “In ein bankrottes Unternehmen investiert man nicht. Verklag uns, wenn du es wagst.”
Dann lernte ich ich einen Mann kennen, wir verliebten uns. Er war zwölf Jahre älter als ich und arbeitete als Ingenieur. Er fand es schade, daß ich meine Zeit an der Autobahnraststätte vertrödelte und ermutigte mich, eine Ausbildung zur Modedesignerin anzustreben. Ich traute mir das nicht mehr zu. Außerdem konnte ich die Stelle nicht aufgeben, weil ich das Geld brauchte.
Ich hatte es inzwischen geschafft, soviel Geld beiseite zu legen, daß ich meinem vorherigen Freund das Auto zurückbezahlen konnte, daß er mir damals gekauft hatte. Er war ganz gerührt und wollte das Geld nicht annehmen, mit der Begründung, daß der Wagen doch schon auf dem Schrottplatz liegen würde und ich das Geld dringend selbst bräuchte.
Er hat es dann doch genommen, als ich ihm erklärte, daß es nicht um das Geld ginge sondern um meine Anerkennung all dessen, was er für mich getan habe. Er hat verstanden, daß es meiner Würde gutgetan hat.
Ich finde es heute noch großartig, was er alles für mich getragen hat; ich bin ihm dankbar.
Er ist ein guter Mensch.
Danach zog ich mit meinem neuen Freund zusammen. Als ich Geburtstag hatte, schenkte er mir eintausend DM. Ich fand das unmöglich und fühlte mich sehr unangenehm. Ich war bestürzt.
Er sagte mir, daß dies eigentlich kein richtiges Geburtstagsgeschenk sei, mein Geburtstag sei lediglich der Anlaß, er habe lange darüber nachgedacht. Er wisse, daß ich kein Geld für tolle Sachen habe und ich könne mit dem Geld machen, was ich wolle. Er würde sich wünschen, daß ich darüber nachdenke, was ich am meisten wolle.
Da dieser Betrag so irrsinnig groß war, habe ich lange überlegt.
Dann bin ich nach Hamburg gefahren und habe mir in einer Grafik-Buchhandlung Bücher über das Modezeichnen gekauft. Diese Bücher kamen aus Japan und der Text bestand aus japanischen Schriftzeichen, aber die Abbildungen zeigten, wie man vorgehen sollte. Ich hatte das Gefühl, noch nie etwas so Großartiges besessen zu haben. Mir war schwindelig, so glücklich war ich.
Dann habe ich mir noch Stifte und Zeichenpapier gekauft und alle Zeichenkurse an der Volkshochschule belegt, die es gab. Ich wußte, daß ich eine künstlerische Aufnahmeprüfung machen müßte und ich konnte wirklich nicht zeichnen.
Mein Freund sagte nur, daß er sich das genauso vorgestellt hätte.
Tatsächlich habe ich bei meiner Bewerbung ein Gespräch geführt, in dem ich sagte, daß ich noch überhaupt nicht zeichnen könnte. Man hat mich dann ziemlich verblüfft gefragt, was ich dann dort an der Schule wollte. Ich war auch verblüfft und habe ehrlich gefragt, weshalb ich dort hingehen sollte, wenn sie glauben würden, sie könnten es mich nicht lehren.
Alle haben daraufhin gelacht und sie haben mich angenommen.
Als ich dort siebenhundert Kilometer von meinem Heimatort entfernt ein Zimmer im Frauenwohnheim gefunden hatte, ist mein Freund mit mir zu meinen Eltern gefahren. Sie hatten dort eine kleine Party mit befreundeten Ärzten, Apothekern und Anwälten.
Ich habe ihnen gesagt, daß ich Modedesignerin werden möchte, einen Platz hätte und auch ein Zimmer in Aussicht.
Mein Vater hat dann vor allen seinen Freunden gesagt, das sei ja nun alles ganz “niedlich”, aber wie ich denn gedenken würde, das alles zu bezahlen?
Daraufhin hat mein Freund gesagt, daß sei eigentlich kein Problem, wenn sich Dr. X die Ausbildung seiner einzigen Tochter nicht leisten könne, so würde er sie eben bezahlen.
Mein Vater hat in dieser Runde klein beigegeben und noch gesagt, daß ich total unbegabt wäre.
Von sechzig haben nur zwei die Bestnote im Zeichnen bekommen.
Eine davon war ich.
Großen Anteil daran hatte mein Freund. Mein Vater hatte mir so wenig zukommen lassen, daß ich hätte nebenbei arbeiten müssen. Mein Freund ist ebenfalls dorthin umgezogen und meinte, er würde so gut verdienen, daß er niemandem erklären könnte, weshalb seine Freundin sich nicht Vollzeit um ihre Ausbildung kümmern sollte.
Außerdem hat er sich für wirklich alles, was mit meiner Ausbildung zu tun hatte, begeistern können und war selbst während der ganzen Zeit mit Spaß und Engagement dabei und hat auf nette und angenehme Weise auch manchmal mit mir angegeben.
Zu meinem Abschluß hat mich meine Dozentin fürs Modezeichnen beiseite genommen und mir geagt, ich sei ihrer Meinung nach in diesem Beruf nicht wirklich gefordert, sie würde mich als bildende Künstlerin oder Autorin sehen, es wäre ihr ein Anliegen, daß ich ihre Worte in meinem Herzen bewegen würde.
Zum Geburtstag meiner Mutter fand eine Familienfeier statt mit all unseren Verwandten, die an der großen Tafel saßen. Ich beglückwünschte meine Mutter, begrüßte meine Verwandten und zeigte auf Verlangen mein Diplom vor.
Ich war so glücklich.
Dann stand meine Mutter auf, alle sahen sie an und sie sagte: “Ach, übrigens, hatte ich euch schon erzählt, daß ich mir gerade ein Kostüm entwerfen und schneidern lasse? VON EINER RICHTIGEN DESIGNERIN!”
Ich bin in Tränen ausgebrochen, mir war,als müßte ich umfallen vor Schmerz.
Daraufhin sagte irgendjemand: “Bist du eigentlich nur hergekommen, um deiner Mutter den Geburtstag zu versauen?”
Dann bin ich gegangen. Weggelaufen.
Bald darauf hat mein Freund sich von mir getrennt, es war eine Trennung im Guten. Wir hatten noch viele Jahre Kontakt, auch ihm bin ich zutiefst dankbar.
Kurz darauf verliebte ich mich in meinen jetzigen Ehemann. Wir kennen uns schon seit wir sechzehn waren, hatten aber nie viel miteinander zu tun. Wir wußten sofort, daß wir heiraten wollten, wollten uns aber noch zwei Jahre Zeit lassen, bis zum Ende seines Ingenieurstudiums.
Wieder in meinem Heimatort konnte ich keine Stelle als Designerin finden, dazu hätte ich weit weg ziehen müssen. Ich nahm einen Job an.
Als ich meinen Eltern meinen zukünftigen Mann vorstellen wollte, stand meine Mutter im Vorgarten und rief ihm fröhlich zu: “Hallo, siehst du diesen großen Stein, auf dem ich stehe? Das ist der Grabstein für meine Tochter, auf dem springe ich fröhlich herum, weil ich mich jetzt schon darauf freue, wenn sie endlich tot ist!”
Meinem Mann hatte es die Sprache verschlagen. Er ist erst zuhause total wütend geworden und hat gesagt, daß ihm noch nie soetwas Widerliches geboten worden wäre. Er fühle sich schlecht, weil er mich nicht hätte schützen können, weil er so vor den Kopf geschlagen gewesen wäre.
Später hat er mir gesagt, daß er immer versucht, nicht wieder daran zu denken, weil er sich einerseits schämt, mir in dem Augenblick nicht ausdrücklich hätte beistehen zu können und andererseits gefühlt hätte, daß er sie hätte einfach erschlagen wollen.
Und soetwas wolle er niemals denken.
Da wurde mir klar, daß meine Mutter seine Seele beschmutzt hatte.
Und ich erkannte, daß sie meine ebenfalls beschmutzt hatte.
Ich habe sie dann angerufen und ihr mitgeteilt, daß ich den Kontakt beende. Sie hat höhnisch gelacht und mir gesagt, ich würde sie nie loswerden, sie würde mich überallhin verfolgen.
Und sie hat in gewisser Weise recht. In einer Therapie, die ich zusammen mit meinem man gemacht habe, haben er und ich gelernt zu verstehen. Unsere Therapeutin hat deutlich und mit Nachdruck klargemacht, daß es sich um Mißbrauch handelte, daß das Verhalten meiner Eltern schlicht inakzeptabel und nicht entschuldbar ist. Sie hat temperamentvoll Anteil genommen und meinem Mann und mir unsere Würde zugestanden.
Sie hat uns gelehrt, achtungs- und liebevoll miteinander umzugehen.
Das hat vielleicht ein halbes Jahr gedauert. Vielleicht interessiert es sie, daß unsere Therapeutin nach einem systemischen Ansatz (ist das überhaupt richtig ausgedrückt?) gearbeitet hat.
Als sie mich damals fragte, was mir in meiner Jugend Kraft gegeben hätte, erwähnte ich Ihre Bücher. Ihr Kommentar war: “Da hattest du aber Glück, daß du die guten Bücher gefunden hast.”
Ich hatte noch lange Sorge, daß ich vielleicht doch so wie meine Mutter sein könnte und wollte nicht, daß meinen Kindern Grausames durch mich zugefügt werden könnte. Als ich meiner endlich sicher war, war es zu spät. Ich bedaure es aber nicht, ich mag auch anderer Leute Kinder.
Ich bin später noch einmal im Krankenhaus gewesen und lag mit mehreren Thrombosen auf der Intensivstation. Alle nahmen an, daß mein Vater sich dort um mich kümmern würde, deshalb kümmerte sich eigentlich keiner, bis ein resoluter Pfleger meinen Vater holte.
Er baute sich dann an meinem Bett auf und sagte: “Weißt du eigentlich, daß du hieran sterben könntest? Vielleicht gehst du jetzt einmal in dich und bittest uns um Verzeihung.”
Als der Pfleger zurückkam, glaubte er, daß mein schlimmer Zustand von den schweren Medikamenten käme und hat Ersatzmedikamente gesucht.
Ich lag wochenlang im Krankenhaus und viele Pfleger, Schwestern und sogar Putzfrauen haben mich besucht, um mir zu sagen daß sie nicht glauben können, daß dieser gute Doktor so herzlos zu seiner Tochter ist. Zumal alle wußten, daß meine Eltern keine 300 m entfernt wohnen.
Ich bin nun seit mehr als achtzehn Jahren mit meinem Mann zusammen und unsere Ehe zeigt mir, wie man ein gutes Leben führen kann.
Ich bin glücklich, daß ich ihn für mich gewinnen konnte. Neulich hat er mir gesagt, daß er mich liebt. Ich hab ihn gefragt, ob er Gründe dafür hätte und er sagte: “Ja, weil du unter anderem ein freundlicher und warmherziger Mensch bist.”
Ich glaube, daß das für mich das bedeutsamste und schönste Kompliment ist, weil ich genau das sein möchte. Wenigstens möglichst oft…
Sie, liebe Frau Miller, mußten annehmen, daß ich schon mit vierzehn das erste Buch von Ihnen gelesen habe und fragten mich, ob ich es denn schon hätte verstehen können.
Nun, wie wie beide wissen, war ich schon sechzehn und zu der Zeit habe ich sehr viel aus Ihrem Buch verstanden. Heute verstehe ich mehr in Ihren Worten, aber ich bin sicher, daß ich auch mit vierzehn das Grundlegende und Lebensrettende verstanden hätte: Ihre Parteilichkeit für das Kind und Ihr Anerkenntnis der Existenz des seelischen und körperlichen Mißbrauchs von Kindern durch ihre Eltern.
Sie haben sich durch das ja anscheinend heikle Thema nicht irgendwie durchlaviert sondern äußerst klare Worte gefunden. Ich hätte wohl kaum alles verstehen können, aber ich hätte mit vierzehn sehr wohl herausgelesen, daß die Autorin auf meiner Seite ist. Das hätte fürs erste völlig gereicht, zu wissen, daß man nicht ganz allein ist.
Ich habe an Ihren Büchern immer Ihre klare Sprache geschätzt, Sie haben sich nie künstlich durch ausgrenzenden Sprachgebrauch in einem intellektuellen Elfenbeinturm angesiedelt. Die Menschen, die Sie sicherlich erreichen wollen, können Ihre dargelegten Gedanken klar verstehen.
Wenn ich die Rezensionen bei Amazon zu Ihren Büchern lese, sehe ich den Beweis dafür, daß jeder, der das Glück hat, eines Ihrer Bücher kennenlernen zu dürfen auch von Ihren Worten erreicht worden ist. Die Rezensionen sprechen vielfach von Dankbarkeit, die Ihnen als Mensch auch mehr als gebührt.
Vielen Dank, liebe Alice Miller, sie haben mich viel gelehrt und nun habe ich hier doch ein ganz kleines Buch geschrieben,
in diesem Brief an Sie.
Alles Liebe,
C. R.
AM: Ihr Brief ist viel länger als die meisten, die wir hier publizieren, aber ich meine, dass der bodenlose und konsequente Hass Ihrer Mutter, den Sie hier mittels so vieler Beispiele schildern, unbedingt auf unserer Seite gezeigt werden muss. Nicht weil er eine große Ausnahme bildet, sondern weil er vermutlich sehr häufig ungehindert wütet, denn dessen Opfer sind kaum imstande, ihn zu zeigen. Sie leiden an schweren Erkrankungen, oft an Psychosen, viele werden zu Kriminellen, aber sie sind meistens nicht in der Lage, zu sehen und zu zeigen, wie sie als Kinder gequält wurden. Die Medikamente, die sie ständig erhalten, vernebeln noch zusätzlich ihre Klarheit, so erfährt niemand, WESHALB diese Menschen krank oder kriminell geworden sind.
Sie bilden eine Ausnahme, Sie ließen sich nicht verwirren und sich nicht zu einer Jessica machen, Sie haben die extreme Bösartigkeit Ihrer Eltern durchschaut. Das haben Sie sicher Ihrer Intelligenz, Ihrem Wissnsdurst und Ihrem Lesen zu verdanken. Doch diese Erklärung genügt nicht. Denn es gibt und gab auch sehr viele intelligente Menschen, die diese Befreiung von der Blindheit ihrer Kindheit nicht schaffen, die ihre Wahrheit so sehr fürchten, dass sie sie höchstens in Form von Literatur ausdrücken können. In der “Revolte des Körpers” habe ich einige solcher Beispiele geschildert (Schiller, Nietsche, Kafka, Cechov und andere) und gezeigt, dass die Flucht in die Literatur ihr Leben verkürzt hat Das hätten auch Sie tun können, Autorin werden und Erfolg haben. Aber Sie bleiben in Ihrer Realität, mit offenen Augen. Das hat Ihnen die außergewöhnliche Kraft und Klarheit gegeben. Ich danke Ihnen sehr für Ihren Bericht, der sicher anderen Mut machen wird, die Augen zu öffnen.