wut woher

wut woher
Sunday 30 December 2007

Liebe Alice Miller,

von all Ihren Buechern hat mich Die Revolte des Koerpers besonders beschaeftigt, nicht nur in Hinblick auf meine Lebensgeschichte, sondern vor allem in Hinblick auf die Lebensgeschichte meiner Eltern, die beide viele Jahre krank waren. Meine Mutter hatte im Laufe von 20 Jahren mehrfach Unterleibserkrankungen und Tumore, an denen sie aber nicht gestorben ist. Sie starb unerwartet wahrscheinlich an einem Schlaganfall oder Herzinfarkt. Die wirkliche Ursache wurde nicht nach dem Tode untersucht. Mein noch lebender Vater hat seit seiner Jugend Herzbeschwerden, und nun seit dem Beginn seiner Pensionierung ein Rueckenleiden. Er weigert sich uebrigens, das vom Facharzt behandeln zu lassen. Sein HAusarzt doktort seit Jahren ohne Erfolge daran herum. Aber das ist eine andere Geschichte… Die Ignoranz von Aerzten…

Dass die Krankheiten sowohl meines Vaters wie meiner Mutter psychosomatische Aeusserungen ihrer Koerper sind, ist unbestreitbar. Auch unbestreitbar ist, dass die gesamte Familie, ich habe noch zwei Geschwister, sich viele lang elend und schuldig gefuehlt hat vor allem wegen der Krankheiten unserer Mutter. Unser Mitleid hat uns den Blick verstellt fuer die wahren Ursachen.
Nach dem Lesen der fielen mir in meinem Bekanntenkreis viele Menschen auf, die auch schon seit Jahrzehnten mit Krankheiten kaempfen. Eine Bekannte versucht z.B. seit mehr als 25 Jahren ihre Migraene mit Tabletten, Heilfasten, Baedern, Sport, ABmagerungskuren usw. zu bekaempfen und hat eine Odyssee durch Praxen hinter sich. Sie gibt hoechstens zu, es laege am Stress oder an Migraene ausloesenden Faktoren wie ALkohol, Kaese oder Schokolade, aber selbst strengstes Vermeiden dieser Faktoren hilft nicht.
Diese Beispiele haben mein Interesse fuer Psychosomatik geweckt. Durch Zufall entdeckte ich vor Kurzem die bereits 40 JAhre alte Studie von ALexander Mitscherlich . Er beschreibt darin ein Gesundheitssystem, eher ein Krankheitssystem, das unter der Verleugnung tatsaechlicher Ursachen nicht nur bei den Patienten unendliches Leid fortschreibt, sondern auch volkswirtschaftlich voelliger Irrsinn ist. Behandlungen chronischer Symptome koennen natuerlich keinen Erfolg haben. Aber sie dauern und kosten oft ein Leben lang.

Ein klinisches Beispiel in dem o.g. Buch von Mitscherlich hat mich schlie-lich an mich selbst erinnert und mir auch geholfen, eine Ihrer grundsaetzlichen Ueberlegungen, liebe Frau Miller, zu verstehen.
Mitscherlich beschreibt den Fall eines 55jaehrigen Landwirtes, der an einem Analexzem leidet. Und das seit dem Tod seiner Mutter. Schon zuvor fuehlte er sich in seiner Ehe und Familie nicht beachtet, oft uebergangen, an den RAnd gedraengt. Seit dem Tod der Mutter aber fuehlte er sich zum Alten Eisen abgeschoben, voellig hoffnungslos und depressiv. Diese Hoffnungslosigket und Depression, so stellte sich bald heraus, hatte ihn schon sein Leben lang beherrscht. So gelang es ihm nicht, Berufswuensche richtig zu verfolgen, und auch in seinem Privatleben scheiterte er regelmaessig.
Natuerlich fragt Mitscherlich, der das Buch ja in den fruehen 60ern geschrieben hat, nicht nach der wahren Rolle der Mutter oder Eltern. ABer ich finde es doch interessant, dass er , noch ganz Freudianer, eine enge, ja libidnoese Beziehung zur Mutter konstatiert. Diese Beziehung, so Mitscherlich, die auch nach dem Tode der Mutter weiter bestand, konnte nicht aufgeloest werden. Zitat> Ein fruehes Ueber/Ich blockiert jeden Weg, auf dem er eine andere libidinoese Befriedigung mit aggressiven Mitteln erreichen koennte…>
Es scheint mir, dass Mitscherlich nur kurz davor war, zu Erkenntnissen zu kommen, die Ihren gleichen. ABer er bleibt dann in der freudianischen Terminologie stecken.
Ich bin weit davon entfernt den Autor zu loben. Bei der Lektuere des o.g. Beispiels aus seinem Buch ist mir aber erst klar geworden, wie stark falsche und schaedliche Bindungen zwischen Eltern und Kindern sein koennen.
Unter dem Deckmantel der elterlichen Liebe werden Lebensangst, Lebenshemmung und Hoffnungslosigkeit produziert, die im erwachsen gewordenen Kind immer weiter wirken.
Jetzt ist mir auch die Bedeutung, die Sie der Wut zumessen, endlich klar geworden. ABer woher die Wut nehmen, wenn die Hoffnungslosigkeit von Kindheit an so gross ist.
Ich selber spuere statt Wut nur grosse Verzweifelung. Vor allem darueber, dass meine Mutter inzwischen tot ist und ich keine Auseinandersetzung mit ihr haben kann. Jetzt erst aber stelle ich fest, wie sehr sie noch immer mein Leben beherrscht mit ihren Luegen und INtrigen, die sie mir ins Herz gesenkt hat. Solange sie lebte, durfte kein Zweifel daran aufkommen, dass sie die Beste Mutter von allen war. Als wir Kinder waren, hat sie darauf geachtet, dass meine Gescwhister und ich kaum Freunde hatten, sorgte dafuer, dass wir fast nie bei anderen Familien zu GAst waren. Heute ist mir klar, dass sie unbewusst fuerchtete, wir koennten so ein anderes Familienleben kennenlernen.
Ihre Angst, ihre Kinder koennten sich von ihr abewenden, war stark. Gleichzeitig bschimpfte sie uns dauernd, wir braechten sie noch ins Grab. Dabei gab es keine besonderen schulischen Schwierigkeiten, keine pubertaeren Aufsaessigkeiten, keine Freundschaften, die ihr nicht passten, keine Drogen, keinen Alkohol, keine Zigaretten, keine Discos etc.
Trotz blendenden ABiturs und bester Noten an der Uni, gelang es mir nicht, mein Studium zu beenden. Ich habe auch keinen Beruf gelernt und schlage mich seit 20 Jahren mit Jobs durchs Leben. Dass soll nicht heissen, dass ich nicht wie ein Berserker arbeite. Ich war noch nie arbeitslos oder musste irgendwen um Hilfe bitten. ABer es gelingt mir nicht, Chancen zu ergreifen und darauf aufzubauen. Auch im Privatleben macht sich die grosse Hoffnungslosigkeit breit. Ich habe noch nie eine Beziehung gehabt und halte mich unfaehig fuer PArtnerschaften.
Alle paar Jahre breche ich mit unschoener Regelmaessigkeit zusammen und werde von schwersten Depressionen ueberrollt, die ich erst jetzt durch Ihre Buecher beginne zu verstehen. Dann muss ich danach jedesmal bei Null anfangen, in der Arbeit, materiell usw. Meine Gefuehle und meine Wuensche nach Gefuehlen und menschlicher Naehe und Partnerschaft habe ich seit bald zehn Jahren abgestellt, weil mich das TABULA RASA meines Gefuehlslebens sonst umbringen wuerde.
Auch meine Schwester hat ihr Studium abgebrochen. Aber sie hat einen lebensklugen und mutigen Mann gefunden, der sie aus dieser Hoffnungslosigkeit befreit hat. Mein Bruder dagegen war schon als Kind so entmutigt, dass er gar nicht das Gymnasium besuchen konnte. Als er keine Lehrstelle fand, hat ihn unser Vater kurzerhand in seinen Betrieb genommen und selbst ausgebildet. Auch mein Bruder hat zahlreiche Berufschancen nicht wahrgenommen und schliesslich eine Frau geheiratet, deren depressive Grundstimmung es mir unmoeglich macht, die beiden zu besuchen. Diese Frau besitzt nicht das geringste Quentchen Froehlichkeit, hat keine Interessen bis auf kindliche Basteleien, Laubsaegearbeiten usw. und das mit 35 Jahren. Es erscheint mir wie eine glueckliche Fuegung, dass mein Bruder und seine Frau sich weigern, Kindern zu haben.

Wie Sie bemerken werden, kann ich mich dem Phaenomen der Hoffnungslosigkeit nur intellektuell naehern. Die Lebensmitgift meiner Eltern ist Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit. Von ihren Luegen und Intrigen ganz zu schweigen, aber auch die sind ja nur Ausfluesse dieser Hoffnungslosigkeit. Immer wieder betonen Sie die Wut, die man spueren muesse. Nicht nur, dass meine Eltern, vor allem meine Mutter, diese Wut nie aufkommen liessen, denn die war ja verboten und verpoent…es scheint mir noch schlimmer, in diesem Familiensystem war Wut nicht vorgesehen.
Was es allerdings gab, war Zorn, Jaehzorn, ueble Nachrede, toedliches Schweigen und Verschweigen, ja sogar das Totschweigen mancher Menschen.
Das erlebe ich jetzt vor allem bei meinem VAter. Seit ca. 2 Jahren habe ich den Kontakt zu ihm abgebrochen, weil ich seine menschliche Teilnahmslosigkeit nicht mehr ertragen konnte. Wenn ich ihn besuchte, bedankte er sich beim Gehen artig wie ein Kind, meistens mit dem Spruch, gut, dass du da warst, dann ist die Zeit wenigstens schneller voruebergegangen. DAs ist nur ein kleines Zeichen seiner Kaelte. Aber ich habe jetzt erfahren, dass er sich nicht einmal beschwert ueber mein Fortbleiben, es beklagt oder mich beschimpft. Ich bin ihm wohl voellig gleichgueltig. Und so setzt sich der lebenslange Schmerz weiter fort.

Wo soll die Wut herkommen. Ich weiss, Sie werden sagen, alles lesen und wiederlesen Ihrer Buecher hilft nicht, wenn ich es nicht spuere. Aber da ist immer nur die Hoffnungslosigkeit und darin als Bestandteil die seit je abgewuergte, verurteilte, nie zugelassene und inzwischen verschollene Wut.
Wo, bitte, ALice Miller, soll die Wut herkommen, haben Sie einen Fingerzeig

Trotz allem herzliche Gruesse

Ich bitte um Verzeihung fuer die umstaendliche Schreibweise, mir steht gerade nur eine englische Tastatur zur Verfuegung.

AM: Sie fragen, woher die Wut kommen “soll”. Sie steckt doch in Ihnen und äußert sich in Ihren Depressionen und Ihrer Verzweiflung. Aber Sie lassen sie nicht zu, weil Sie offenbar immer noch angst haben vor den Strafen Ihrer Mutter, die Ihnen sagte, Sie würden sie ins Grab bringen. Welches Kind will dies riskieren? So haben Sie sehr früh lernen müssen, Ihre Wut und Empörung über das Verhalten Ihrer Eltern, das Sie hier sehr genau beschreiben, zu erdrosseln. Vermutlich werden Sie nach der Lektüre der Revolte und meines letzten Buches “Dein gerettetes Leben” bald realisieren, dass Ihre Mutter heute keine Macht über Sie mehr hat. Dann werden Sie sich erlauben, die seit Jahrzehnten IN IHREM KÖRPER aufgestaute Wut endlich zu leben, um sich besser kennen zu lernen und Ihr Leben aus den Klauen der kindlichen Angst zu befreien. Lesen Sie meine Antwort auf den Leserbrief des Arztes vom 29.1.07. Sie können uns schreiben, wenn die Angst zu groß wird, aber die Wut wird Sie ganz sicher von den Depressionen befreien. Sie ist ja total berechtigt. Lesen Sie auch den Text über die Wut von Barbara Rogers auf der Seite “Artikel”.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet