Tapferkeit

Tapferkeit
Sunday 16 August 2009

Sehr geehrte Frau Doktor Miller,
Ihre Frage versetzte mich in große innere Aufruhr und ich brauchte zwei Tage um eine (eindeutige!) Antwort zu finden – ja – ich habe die Wut gefühlt und ich möchte den brillant formulierten Leserbrief “Haß und Wut vom
22 Juli 2007“ als ein sprachliches Bild nutzen, denn er gibt mir die Worte, die mir fehlen, um meine Gefühle auszudrücken. Noch nie habe ich eine so klare Beschreibung der Wut und des Hasses gelesen und Ihre Antwort
dazu, ich lese diesen Brief sehr oft, konnte mir aber nie erklären, warum er soviel in mir aufrührt!

Anfangs sprach ich nicht mit meiner Mutter, machte es wie diese beiden Papageien die “sich nur miteinander“
beschäftigten, versuchte sie zu meiden, ignorierte sie, aber meine Mutter gab keine Ruhe. Sie spürte instinktiv
meine Abneigung und geriet in Wut. Wenn ich meine Pflichten im Haushalt erledigte, lief sie ständig hinter mir
her, beschimpfte mich, jagte mich- damit “trieb sie mich zur Weißglut“. Ich hatte einen unbändigen Haß auf sie
und wollte wie im Leserbrief beschrieben “auf dem Käfig herumschlagen“ aber das durfte ich nicht! Also trieb
ich meine Mutter “zur Weißglut“ mit meinem Schweigen, meiner “Sturheit“ (…)
“Ich will diese Vögel nicht mehr in meiner Nähe haben“ so fühlte ich auch bei meiner Mutter, der bloße Klang
ihrer Stimme, ihre Anwesenheit reichte aus, um mich in Wut zu versetzen, die ich aber nicht zeigen durfte.

“Natürlich überwältigt mich die Scham, daß ich die Tiere quäle“ (…) genauso empfand ich mein Verhalten meiner Mutter gegenüber, dass ich sie quäle mit meiner Abneigung, aber meine Wut war unbändig und gleichzeitig durfte ich ihr nicht Ausdruck verleihen, ich hatte Todesangst als ich meiner Mutter das erste Mal
“die Wahrheit“ sagte-nein, nicht ich sei eine schreckliche Tochter- , sie ist eine schreckliche Mutter, daß trieb
sie “zur Weißglut“ (…) und sie hörte nicht auf mit ihrer Kritik und ihren negativen Unterstellungen, genau
wie im Leserbrief beschrieben! “Manchmal überwältigt mich der Gedanke, ich könnte sie einfach aussetzen
oder ihnen den Hals umdrehen. Das könnte ich allerdings nicht tun- davor habe ich die größte Angst; denn eigentlich tun mir die Tiere entsetzlich leid.“ Das trifft genau meine Gefühle, so empfand ich für meine Mutter und das war (für uns beide) ein qualvoller Zustand, für mich war es so.

Sie behauptete immer eine uneigennützige Frau und aufopferungsvolle Mutter zu sein, so stellte sie sich in der Gesellschaft dar, aber in Wirklichkeit war sie eine selbstsüchtige, gehässige und mißgüngstige Frau. “Sie jammerte herum daß sie doch immer das Beste für ihre Tochter gewollt habe“(…) heißt es im Leserbrief und
genau das tat auch meine Mutter. “Ich fühle mich so elend, diese Wahrheiten auszusprechen, so kaltblütig und
niederträchtig-“ ja – genauso habe ich damals als Kind auch gefühlt. Ich wollte eine gute Tochter sein, meiner
Mutter helfen, ihre Liebe erringen- das können Sie mir glauben- war meine größte Sehnsucht. Meine Einstellung
ihr gegenüber empfanden meine Eltern als “mitleidlos“, “kalt“ und “unausweichlich“, ich sei ein schlechtes Kind gewesen- dieser Zustand hielt vier volle Jahre an- bevor ich dieser Hölle entkam, durch meine Berufsausbildung,
-einen Beruf den ich nur gewählt habe-,weil damit ein Internatsaufenthalt verbunden war.

“Dank den Vögeln können sie genau beobachten, was in Ihrer Kindheit geschah und wie ein freies Kind darauf
hätte reagieren müssen, wenn es nicht brutal daran gehindert worden wäre, wenn es nicht in Todesängsten auf-
gewachsen wäre“ schrieben Sie als Antwort und genau wie Sie es formuliert haben, hatte ich Schuldgefühle über
zwei Jahrzehnte hinweg, weil ich es “gewagt habe, meine grausame Mutter damit (meiner Abneigung) in Weiß-
glut zu treiben. Dafür war ich der unschuldige Auslöser und ich möchte es mit Ihren Worten ausdrücken, dass
meine Mutter meine Reaktion reichlich verdient hat.

Es gab für mich keine Chance mit meinen Eltern auszukommen, davon bin ich heute fest überzeugt und es gab nichts was ich hätte tun können, was in meiner Macht lag, dass zu ändern. Für diesen Leserbrief und auch Ihre
Antwort bin ich sehr dankbar, weil beides mir die Worte gab die mir völlig fehlen – nie wäre es mir möglich
gewesen mich sonst auszudrücken.
Hochachtungsvoll ML

AM: Danke für Ihren Brief. Ich denke, dass Ihre Tapferkeit und Beherrschung Ihnen halfen, den Sadismus Ihrer Mutter zu überleben und Ihre tiefsten Gefühle vor sich selbst zu verbergen. Doch jetzt sind Sie offenbar frei zu fühlen, was sie Ihnen angetan hat, und so entdecken Sie auch allmählich, was hinter der Tapferkeit verborgen bleiben musste. Solche tiefen Wunden brauchen viel Zeit und vielleicht viel Wut, um zu heilen.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet