Brief an meine Muttr

Brief an meine Muttr
Sunday 02 November 2008

Sehr geehrte Frau Miller,

ich bin seit einiger Zeit ein stiller Mitleser Ihrer Seite. Ohne vorher weiter auf meine Geschichte einzugehen, möchte ich Ihnen hier einen Brief an meine Mutter einkopieren. Ich denke, dieser enthält meine Geschichte in ziemlich offenen Worten.

Nun lese ich in bei Ihnen öfter, daß Sie empfehlen, diese Briefe nicht abzuschicken. Ich würde das aber gerne tun. Weil ich einen Schlußstrich unter Zwangsbesuche und Telefonate ziehen will. Weil ich meine Antwort auf die Vergangenheit nicht mehr verbergen möchte. Weil ich meine Kinder schützen will. Weil ich mich schützen will. Ist die Gefahr zu groß, daß ich noch etwas von meiner Mutter erwarte – Verständnis, welches sie ja doch nie für mich hatte?

Ich würde mich freuen, von Ihnen zu hören/zu lesen.

Könnte die Veröffentlichung meines Briefes anderen helfen? Ich weiß momentan nicht, ob ich das will.

Mit freundlichen Grüßen

AM: Ihr Brief ist erschütternd, stark und sicher erlösend. Wo haben Sie diesen Mut entwickeln können? Hatten Sie das Glück, einen klaren und mutigen Therapeuten gefunden zu haben? Natürlich würde dieser Brief anderen helfen, aus ihren Gefängnissen herauszukommen und ihr Schweigen zu brechen, aber lassen Sie sich Zeit damit. Er ist jetzt nur für Ihre Mutter geschrieben worden, und sie muss ihn lesen. Wenn Sie sich einmal eine Veröffentlichung bei uns wünschen, werde ich das selbstverständlich gerne tun. Ich habe bereits sehr viele Briefe an die Eltern gelesen, in den meisten schwingt immer noch die Angst mit oder die Erwartung, endlich verstanden zu werden. Ihr Brief ist frei davon, weil Sie sich selber so gut verstehen können und auch den unglücklichen kleinen Jungen, der so allein dieses grausame Gefängnis durchleiden musste, ohne einen schützenden Zeugen. Es ist ein Wunder, dass Sie so stark fühlen können und die große Fähigkeit haben, sich auszudrücken, obwohl niemand da war, mit dem Sie das hätten üben können. Es gab nirgends ein Angebot für einen Austausch von Gefühlen und Gedanken. Oder gab es diese Person, aber ich sehe sie nicht?

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet