Ihre Bücher – eine Offenbarung

Ihre Bücher – eine Offenbarung
Monday 17 July 2006

Liebe Alice Miller,

ich bin – warum auch immer – erst letztes Wochenende auf Ihre Bücher gestossen (dabei sind Buchhandlungen beinahe eine Art “zweites Zuhause”. Vermutlich aber wäre ich früher gar nicht offen genug für das Thema gewesen, zumindest nicht offen genug, um auf meine Emotionen zu achten, und meine unbewusste Abwehr gegen meine Gefühle hätte mich beim Lesen zu sehr regiert).

Ich bin (nach jetzt 3 Büchern, die anderen liegen aber auch schon da) tief berührt und zugleich intellektuell begeistert, über Ihre mitfühlende, aber doch auch so klare, liebevolle und kluge Art und Weise, mit der Sie das Thema Kindesmisshandlung auf den Grund gehen und ich stimme mit all’ Ihren Schlußfolgerungen überein.

Kurz zu mir: ich arbeite als Fernsehredakteurin/-moderatorin und als Coach und Seminarleiterin für Manager, Schwerpunkt Persönlichkeitsentwicklung, Kommunikation, Teamentwicklung. Als Coach bin ich deshalb so gut, weil ich jede Schei*e selbst kennengelernt habe. Auch ich bin eines dieser vom ersten Moment des Erdendaseins an ungeliebten und lästigen, nie gewollten Kindern. Das zweite von 5 Kindern, die älteste starb als Baby nach einer Impfung wohl, von daher doch die Älteste mit ausschließlich Pflichten.

Neben der täglichen verbalen Erniedrigung, die rund um die Uhr ablief (Zu fett, zu blöd, gefrässig, zu teuer, zu laut, zu dreckig, zu hässlich, solche kalte Augen.. etc.) kamen die Schläge. Offen im Treppenhaus des Miethauses, weil ich die Treppen als Kind nicht sorgfältig genug geputzt hatte, als Kleinstkind stehend auf dem Toilettendeckel, um abgetrocknet zu werden von meiner Mutter, die mich windelweich verprügelte, weil beim Abtrocken Hautschuppen von meiner Haut ins Handtuch gingen, ich mich also nicht richtig geschrubbt hatte.. ich musste nur eins: funktionieren. Putzen, Wäsche waschen, Kochen, still sein, auf keinen Fall reden, die Mutter war ja zu gestresst. Auf die kleineren Geschwister aufpassen. Als ich 9 war kam noch ein kleiner Bruder von einem anderen Mann hinzu. Ich war immer viel zu klein, zu dünn und untergewichtig, aber ich habe mit 9 Jahren das Baby versorgt, sauber gemacht, gefüttert, Mutter gespielt. Ich bin von klein auf arbeiten gegangen, um Geld zu verdienen für meine Schulutensilien. Habe Schaufensterscheiben geputzt. Nachhilfe gegeben etc.

In der Schule wurde meine Stimme entdeckt und ich kam in einen Chor und durfte in der Oper singen. Meine Mutter war bei keiner einzigen Aufführung zugegen. Ein Abo für’s Theater besaß sie. Aber mich, ihre Tochter, hat sie in keiner einzigen Opernaufführung gesehen oder erlebt. Parallel dazu ging ich zum Sport. Begann mit dem Leistungssport und wurde schnell sehr gut und nahm auch an Deutschen Meisterschaften teil. Meine Mutter hat sich keinen einzigen Wettkampf angeguckt. Gegen ihren Willen bin ich auf’s Gymnasium. Habe ihre Unterschrift gefälscht, damit ich den Schritt von der Realschule aufs Gymnasium machen konnte. In der Realschule war ich eine von drei Schülern, die es in meinem Jahrgang geschafft hatten, die Qualifikation für das Gymnasium überhaupt zu bekommen. Dennoch wäre ich beinahe auf die Hauptschule gekommen, das Realschul-Kollegium wollte mich von der Realschule werfen, weil ich aus keiner “guten Familie” komme. Meine Sportlehrerin hatte das damals verhindert. (Als sie mir das JAHRE später erzählte, wurde mir schlagartig schlecht.. das also hätte mir auch noch blühen können).

Ich stand dann hin und wieder in der Zeitung, weil eben gut im Sport. Die Kolleginnen meiner Mutter im Büro fragten deshalb schon mal nach mir. Meine Mutter gab immer mit mir an, wusste aber nie, in welchen Fächern ich Abitur mache. Sie fragte immer wieder neu und hatte es sofort wieder vergessen.

Eine meiner Schwestern ist nach einer Prügelarie ins Mädchenwohnheim gezogen. Ich bin vor dem Abi von zuhause rausgeschmissen worden und habe
ohne Bücher Abi gemacht. Bei der Feier saß dann aber meine Mutter stolz neben meiner Vertrauenslehrerin und zwar deshalb stolz, weil diese sagte “Silke wird von Tag zu Tag schöner”. Dass ich die Folter überstanden hatte und alle Erniedrungen verkraftet und DENNOCH ganz alleine Abitur gemacht habe.. das war ihr nicht in den Sinn gekommen als beachtlich zu begreifen. Aber so etwas Äußerliches wie Schönheit. Ich habe mich für meine Mutter geschämt. Ich habe meine Mutter verabscheut und sie gehasst. Und ich konnte und kann sie auch jetzt noch nicht in meiner unmittelbaren Umgebung ertragen.

Meine Mutter hat nie Respekt vor ihren Kindern entwickelt. Auch keinerlei Achtung. Kam zu mir nach Berlin, weil sie sich vergnügen wollte. Fragte aber nicht, ob ich da sei, Zeit habe, Platz in der Wohnung für sie.. damals lebte ich mit einem Mann und dessen zwei Kindern zusammen, ernährte eine Kleinfamilie und hatte ungefähr drei Jobs gleichzeitig neben dem Studium und arbeitete auch zeitweise im Ausland. (ich bin auch so eine “Grandiose” ..).

Als meine Mutter (die sich für nichts interessiert, was wir ihr zeigen wollten in Berlin) abends beim essen über Tierversuche aufregte.. und ich erwiderte: ich bin gegen unnötige Tierversuche, aber bevor Menschen unwissentlich zu Probanden gemacht werden, dann doch bitte Tiere.. sie mich als “kalt” und “gefühlslos” beschimpfte, schließlich hätten auch Tiere Gefühle.. daraufhin sagte ich unter Tränen : “Du hast drei kleine Kinder fast totgeprügelt und unsere Tränen waren dir egal und du erzählst mir jetzt, dass TIERE Gefühle haben.. RAUS MIT DIR!.. morgen bist du weg aus meiner Wohnung!

Am nächsten Morgen lag ein zettel auf dem Flur “Keine Lust auf Frust. ich gehe”.

Und ich hatte die ganze Nacht Weinkrämpfe, weil es so unglaublich für mich gewesen war.. und ich mich so für sie schämte.

Jahre später, auf Bitten meines Mannes, lud ich sie – gegen mein besseres Wissen – zu unserer Hochzeit ein. Die Ehe war eine Katstrophe. Mein Mann wollte mich unbedingt heiraten. lief aber in dem Moment, wo er mich hatte, vor mir weg. Ging als Korrespondent für 2 Tage aushilfsweise nach Moskau, kam nach 6 Wochen zurück. Wir hatten zwei Wohnungen in zwei Städten und waren letztendlich inclusive Trennungsjahr 2 Jahre verheiratet ohne dass ich etwas mit ihm gemeinsam hätte machen können.. dieses Trauma ist aber eine andere Geschichte. Ich habe das erste Jahr gelitten wie Hund, keine Nacht geschlafen.. und meine Mutter rief nur an, um quengelnd zu fragen, wann *sie* denn endlich wieder den (berühmten, mein Mann war damals recht bekannt) Schwiegersohn sehen könnte, sie könne ihren Kolleginnen ja gar nichts mehr erzählen. Meine bittere Anmerkung, *ich* würde ihn auch nie sehen und sei schließlich mit im verheiratet, wurde ignoriert.

Ich habe JAHRE versucht diese Kindheit , intellektuell aufzuarbeiten und zu verkraften. War irre leistungsbereit und ausbeutbar dadurch und ich bin erst sehr spät (ich bin jetzt 45) darauf gekommen, dass ohne das Einbeziehen der Gefühle da gar nichts zu “retten” ist.

Als junge Frau habe ich (Klein)Kinder gehasst. Bis ich reflektierte, dass ich ihnen den Hass entgegenbrachte, den ich selbst bis ich 18 war, erleben musste. Dann konnte ich das abstellen. Kopfmässig zumindest.Dass davon vieles im Körper steckt, wie Sie schreiben, habe ich erst später begriffen.

Ich bin über die energetische Psychologie, diese Kombination aus Gesprächstherapie und Meridiane klopfen, so dass man in detektivischer Kleinarbeit von einer Gefühlsschicht zur nächsten gelangt, meinen Gefühlen näher gekommen und habe mir vieles “wegklopfen” können.Und ich habe inzwischen auch den Therapeutenschein gemacht. Arbeite aber, weil keine Ärtzin oder Psychiaterin, nur mit mir selbst.

Bisher habe ich fast eine Heilung im Alleingang geschafft und Ihre Bücher geben mir nun wieder ganz neue Anreize, weiter in diese Richtung zu gehen.
Ich komme meinen Gefühlen immer näher und das ist ein tolles Gefühl. Und dafür möchte ich Ihnen danke sagen, dass Sie diesem Thema Ihre ganze kraft geben und so unermüdlich udn mutig sind. Und ich möchte gerne schauen, inwiefern ich Ihre Arbeit möglicherweise unterstützen kann.

Hier mache ich jetzt einfach mal einen Punkt :-).

Ich wünsche Ihnen eine gute neue Woche, mit den besten Wünschen, S. S.

AM: Ich habe mich über Ihre starke, lebendige und (so schien es mir) freie Reaktion auf meine Bücher sehr gefreut. Es gab zwar schon viele ähnliche Reaktionen, wenn auch meistens gekoppelt mit noch starken Ängsten vor den Eltern (“darf ich das denken? werde ich nicht dafür bestraft?”) Sie haben aber bereits einen großen Weg zurückgelegt, um Ihre Fähigkeiten trotz starker Unterdrückung zu befreien und Ihre Kreativität zu entwickeln. Daher wohl gehören Sie zu den wenigen Leserinnen, die den Wunsch haben, das, was Ihnen einleuchtet, öffentlich zu verbreiten. Ich weiß, dass es in den Medien schwer ist, die Wahrheit über die Rolle der Kindheit zur Sprache zu bringen, aber ich weiß auch, dass dies nicht unmöglich ist, besonders, wenn man sein Wissen aus eigener Erfahrung schöpft und den Mut hat, die konventionellen Denkweisen zu verlassen. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei solchen Versuchen. Lassen Sie uns wissen, wenn Sie etwas erreicht haben.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet