Ich könnte ein Buch darüber schreiben

Ich könnte ein Buch darüber schreiben
Thursday 30 August 2007

Therapeuten als passive Täterschützer

Liebe Frau Miller,

vielen Dank für Ihre wunderbaren Bücher, ich habe sie schon vor Jahren alle gelesen und verstanden. Ich war einerseits über soviel Wahrheit geschockt, spürte aber dass mir das weiterhelfen würde. Sie wurden mir damals von einem, selbst sehr schwer mißhandelten, Mann empfohlen – aber nicht von einem Therapeuten.

Ich wurde Mitte der 60er Jahre als erster von drei Söhnen geboren. Mein grausames Schicksal ist sicher stellvertretend für viele Kinder der damaligen Zeit. In meinem Elternhaus wurde ich geschlagen, unterdrückt, Gefühle und Bedürfnisse hatte ich nicht zu haben. “Du hast nichts zu wollen” war einer der hohlen, stereotypen Phrasen meines Vaters. Schon als Baby karrte mich mein Vater einfach in ein anderes Zimmer, wenn ich schrie, es war ihm einfach zu viel, Mutti hielt still. Auch stundenlanges Verharren vor eiskaltem Essen, bis der Teller leer war, galt als “normal”. Meine Mutter deckte die Grausamkeiten meines Vaters, da sie sich gegen ihn nicht durchsetzen konnte/wollte und auch Vorteile davon hatte. Sie wollte einfach nicht wahrhaben wie ihr Mann und auch Vater wirklich waren, deshalb drückte sie bei den Grausamkeiten sämtliche Augen zu oder machte mit. Während mein Vater seine aufgestauten Aggressionen an mir und meinem Bruder entlud, hatten wir anschließend das Kunststück fertig zu bringen, weder zu Schreien und auch nicht zu Weinen. Noch heute fällt es mir äußerst schwer zu weinen, was ich sehr bedauere. Meine Mutter sehe ich heute noch schemenhaft, wie unbeteiligt, im Hintergrund. Sie war zu feige einzugreifen.

Ich hatte über weite Strecken meines Leben Todesangst, Atemnot, Angst zu Ersticken, Depressionen und Selbstmordgedanken. Ebenfalls unerklärliche Muskelkrämpfe, Nasen-/Nebenhöhlenbeschwerden, kalte und schweißnasse Hände. Ebenfalls Suchtverhalten wie Sex- und Nikotinsucht (leide ich heute noch drunter). Als Kind hatte ich schon Panikattacken mit Atemnot. Auch Tiere habe ich gerne als Kind gequält. Ich schlug und ertränkte sie, genau auf die Art und Weise wie meine Eltern mich quälten. Seit der Pubertät hatte ich quasi permanent Angst und Panik.

Mein Vater hat sich eigentlich nie für mich interessiert, lediglich als Prügelknabe und Sündenbock, anstelle seines eigenen Vaters. Meine Mutter kam mit ihren Bedürfnissen als Frau in dieser Ehe zu kurz und “kümmerte” sich um ihren “kranken” Sohn “aufopferungsvoll”, indem sie mir ihre Sicht meiner Krankheit aufdrückte, mich überall mithinschleifte. Die schwachsinnigsten Behandlungen mußte ich über mich ergehen lassen. Nicht die Grausamkeiten im Elternhaus waren Schuld sondern: Allergien, falsche Ernährung, Darmpilze, das Klima, die schlechte Luft, Erdstrahlen, falsches Denken (“denk Positiv”). Es folgte eine endlose Odyssee an Besuchen von Ärzten, Operationen, Heilpraktikern, Geistheilern. Natürlich brachten diese alle keine Besserung und entlarven lediglich die Dummheit und Hohlheit der “Helfer”. Bedürfnisbefriedigung meiner Mutter getarnt als Opferbereitschaft für ihren Sonn. Noch heute bekomme ich zu hören “aber deine Mutter war doch so viel für dich da”. Gefragt wurde ich selbstverständlich nicht was ICH wollte oder mir gut tun könnte, sie wußte angeblich ganz genau was mit mir los sei. Später behauptete sie, sie hätte ja auch nicht gewußt was mit mir los gewesen sei. Über viele Jahre terrorisierte mich meine Mutter mit ihren “Weisheiten” , die in Wahrheit totale Verdrängung ihrerseits und Ausbeutung von mir waren.

Als ich 14 Jahre alt war wollte mein Vater mich totschlagen, dies sagte er kurz zuvor meiner Mutter, die keinen Finger rührte für mich. Ich konnte nach dem ersten harten Schlag mit einem Wanderstock, der sofort auf meinem Rücken zerbrach, flüchten. Das war das letzte Mal dass er mich geschlagen hat, danach gab es “lediglich” Nackenschläge. Er nannte das “einen in den Nacken geben”. Verbale Demütigungen und Bloßstellungen gab es auch weiterhin als Erwachsener. Auch meine Mutter betätigte sich gerne noch als Furie, als ich erwachsen war. Warf Aschenbecher nach mir, schrie mich an usw. Übertrug den ganzen Hass, auf ihren Vater und Mann, auf mich, alles Männliche war Horror. Es ist ein Wunder dass ich heute überhaupt noch lebe. Wenn die Gesellschaft das Töten von Kindern erlaubt hätte – ich würde heute irgendwo verscharrt in einem Waldstück liegen. Aber so – “was hätten dann die Leute denken sollen”. Übrigens ging es meinen Brüdern auch nicht sooo viel anders wie mir, sie verdrängen nur ganz hervorragend. Einer meiner Brüder gibt zu, dass er viel verdrängt, besteht aber trotzdem darauf dass die Kindheit schön gewesen sei, will aber niemals drüber reden. Wahrscheinlich würde er angesichts dieses “Glücks” zusammenbrechen.

Übrigens war und ist mein Vater eifriger “Christ” und “braver” Kirchgänger. Getrieben von einer krankhaften Sucht nach sozialer Anerkennung, durch nach außen dargestellte “Rechtschaffenheit”. In die Kirche wurden wir als Kinder regelrecht geprügelt, sogar noch als Jugendliche und junge Erwachsene. Belogen wurden wir auch nach Strich und Faden.

Ich bin nun Anfang 40 und habe über einen Zeitraum von fast 20 Jahren Therapien gemacht. Heute sehe ich die meisten Therapien als Reinszenierung meines Dramas aus meiner Kindheit an. Unter dem Deckmäntelchen angeblicher Hilfsbereitschaft wurde dem kleinen Jungen in mir, der von seinem Elend im Elternhaus erzählen wollte, fast immer wieder das Maul gestopft, weil angeblich andere Dinge wichtiger seien. Gerne wurden auch Antidepressiva gereicht und das Grauen meiner Kindheit hinter akademischen Begriffen verharmlosend umschrieben. Manche Therapeuten waren sogar mächtig stolz darauf keinen “emotionalen Bergbau” zu betreiben, für meine Biographie, insbesondere meine Kindheit, bestand kaum Interesse. In einer verhaltenstherapeutischen Klinik war ich drei Mal. Patientenrazzien gehörten hier zum guten Ton. Gelegentlich wurde man ohne Vorankündigung vom gefühllosen, smarten, stets gut gekleideten Herrn Professor dazu aufgefordert sich vor den Zimmern aufzustellen, damit die Damen und Herren Dipl.-Schwachköpfe die Zimmer nach evtl. vorhandenen Medikamenten durchsuchen konnten, unglaublich!. Dies im 20./21. Jahrhundert in einer “renomierten” Ausbildungsklinik. Es wurde hier auch die Meinung vertreten, dass man an jedem Mißbrauch auch immer ein kleines bißchen selbst Schuld habe. Ich nehme an, so denkt und verhält man sich heute noch dort, natürlich alles nur mit den allerbesten Absichten (genau wie meine Eltern). Selbstverständlich wurden die Absschlußberichte nach Strich und Faden beschönigt, so dass man beim Lesen den Eindruck haben konnte, es handle sich um einen anderen Menschen als einen selbst (diese Praxis hat mir mein Hausarzt übrigens auch bestätigt). Denn was sollten dann die Kostenträger denken, wenn die Wahrheit hier drin gestanden hätte. Gefragt, ob einem die Therapie was gebracht hat wurde man natürlich nicht, es wurde einfach beschlossen dass es so war, ganz wie die liebe selbstgefällige Mama. Ich fühle mich von den allermeisten “Therapeuten” emotional, teilweise schwer, mißbraucht und mißhandelt, auf ganz ähnliche Weise wie von meinen Eltern. Dies ist für mich die teuflischste Form des Mißbrauchs und der Rache, weil sie so schwer zu durchschauen ist und als “Hilfe” verkauft wird. Übrigens kann ich mich an keinen einzigen meiner Mitpatienten erinnern, dem es hinterher wirklich besser ging.

Den Kontakt zu meinen Eltern habe ich längst abgebrochen, meinen Vater sogar bei der Polizei angezeigt, natürlich ohne jegliche Unterstützung. Für mich ist es auch kein Zufall dass ich den Betrug in Therapien im gleichen Zeitraum durchschaut habe, als ich begann den Beschiss in meinem Elternhaus zu durchschauen. Für mich ist mein Vater ein perverser Sadist, ein Heuchler, Arschkriecher, Schleimer, feiger Hosenscheisser, unfähig zum logischen Denken, zur kleinsten Empathie. Selbstverständlich sind meine Eltern IHREN Eltern sehr dankbar für ihre Erziehung. Meine Mutter hat mich – in Bezug auf meinen Vater – immer wieder im Stich gelassen. Sie hat mit mir in den letzten Jahren hunderte Gespräche über meinen Vater geführt und mir in vielem Recht gegeben. Aber immer wenn es hart auf hart kam, dann hat sie wieder die Seite gewechselt. Ich weiß heute, dass ich ein emotional/seelischer Vollwaise war/bin. Ohne Liebe in der Kindheit, aber mit viel Schmerzen, Angst, Panik, Höllenqualen. Ich denke oft, es wäre besser gewesen mein Vater hätte mich totgeschlagen, dann wäre mir vieles erspart geblieben.

Ich bin ein lebendiges Mahnmal für die Folgen von Schwachsinn, Abgestumpftheit und Hohlheit der Gesellschaft gegenüber der Gewalt an Kindern. Ebenfalls kann sich jeder ein Bild davon machen wie es um unsere Therapielandschaft bestellt ist. Ich würde heute sagen, dass mindestens 90 Prozent der Therapeuten die Eltern schützen und das Kind zum Schweigen bringen wollen. Es ist eine Katastrophe, ich fühle mich oft alleine. Fast alle beteiligen sich in unserer Gesellschaft am Verdrängen: Pharmazeutische Industrie, Ärzte, “Therapeuten”, Lehrer, Pfarrer, Justiz. Die Verdrängung ist allgegenwärtig. Lediglich vereinzelt trifft man auf Menschen die wissen und fühlen wollen, was für ein Segen. Deshalb kann ich die von ihnen gemachten Erfahrungen nur voll und ganz bestätigen Frau Miller.

Die einzige positive Erfahrung mit Therapeuten machte ich vor 5 Jahren in einer Bonner Klinik. Das Konzept war tiefenpsychologisch orientiert. Die Therapeuten sehr warme, mitfühlende Menschen, die klare Worte fanden. Im Vordergrund stand die Arbeit mit Gefühlen. Aber selbst hier konnte ich mich nicht emotional öffnen. Ich hatte erst kurz zuvor einen therapeutischen Mißbrauch mit einer Frau erlebt, die mich übelst im Stich gelassen und verraten hatte, genau wie meine Mutter. Als ich sie später damit konfrontierte wurde ich souverän abgeschmiert mit der Bemerkung “das sei nur MEINE Meinung”. Die Blockade gegenüber meiner Therapeutin in der Klinik ist mir mittlerweile auch klar, weil ich permanent Angst hatte vor Fragen AN und Antworten VON meiner Therapeutin, da dies vielleicht wieder nur eine Haltung hervorgebracht hätte, durch die ich mich verraten gefühlt hätte. Einmal wagte ich es und machte eine sehr gute Erfahrung mit ihr. Sie freute sich sogar darüber, dass ich sie auf mein Ärgernis ihr gegenüber ansprach. Ich möchte gerne noch einmal in diese Klinik um meine miese Mutterbeziehung zu klären. Meine Vaterbeziehung sehe ich in aller Grausamkeit haarklein vor mir. Dies führe ich auf den Aufenthalt in dieser Klinik zurück, da ich erst nach dem Aufenthalt zu den für mich wichtigen Erkenntnissen und Gefühlen kam. Heute habe ich so gut wie nie mehr Angst, dafür aber eine rasende Wut, die ich voll verstehe. Aus diesem Grund mußte ich die Beziehung zu meinen Eltern auch abbrechen – ich hätte meinen Vater sonst umgebracht!

Und erst jetzt fange ich langsam an zu durchschauen inwieweit meine schlechten Beziehungen zu Frauen etwas mit meiner Mutter zu tun haben. Warum ich gegenüber Frauen unterschwellig immer ein mieses Gefühl habe, die Angst verraten zu werden, was ich von meiner Mutter bestens kenne.

Ein weiterer Beweis therapeutischer Stumpfheit und Gefühllosigkeit gegenüber Kindern ist die Tatsache, dass trotz allen Wissens über Mißhandlungen an Kindern, niemals irgendwelche Demonstrationen für die Rechte von Kindern, von Therapeuten, initiiert wurden. Wohl nur aus Angst vor den eigenen Eltern, anders ist es mir nicht erklärbar. Man verdient an den Folgen von Mißahndlungen an Kindern, hat aber Null Bock auf Mitgefühl für das Kind, welches der Klient noch immer in sich trägt. Ich bekomme oft zu hören, dass ich doch sehr viel Pech gehabt hätte, wenn ich über meine Therapien spreche. Mit Pech hat das gar nichts zu tun, sondern sagt nur etwas über die Wahrscheinlichkeit aus, an einen klaren, wissenden, mitfühlenden Menschen zu geraten. Dies alles ist nur ein Bruchteil dessen was ich erlebt und durchschaut habe. Ich könnte ein Buch damit füllen.

Liebe Frau Miller, ich fühle mit ihnen und ihrer eigenen Kindheit und stehe voll und ganz auf ihrer Seite. Ich wünsche Ihnen noch ein langes schönes Leben, viel Kraft und Gesundheit. Alles Liebe für Sie.

M. A.

AM: Sie haben so viel verstanden und durchschaut, wie nur wenige Menschen, die so leiden mussten, es wagen. Weil sie angst haben. Warum sollten Sie nicht ein “Buch damit füllen”, wenn Sie Lust dazu haben? Sicher könnte es vielen Menschen helfen, die Augen aufzutun, Mut machen, sich ebenfalls zu äußern, und ihre Erfahrungen mit den Eltern und Therapeuten zu beschreiben. Viele könnten in Ihrem Buch ihre eigene Geschichte wiederfinden, weil Sie sehr klar und mutig schreiben.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet