Mutter und Großvater
Friday 18 April 2008
Sehr geehrte Frau Miller,
vor einigen Monaten entdeckte ich zufällig einige Ihrer Bücher (Das Drama des begabten Kindes, Am Anfang war Erziehung). Und obwohl ich sie faszinierend und einleuchtend fand konnte ich mir doch nicht recht vorstellen, das meine eigenen Depressionen und selbstzerstörerischen Tendenzen mit der frühen Kindheit zusammenhingen. Denn ich war immer stolz darauf, daß meine alleinerziehende Mutter uns nie geschlagen hat (inzwischen klingt das für mich seltsam), und ich erinnere mich daran das sie mit uns gespielt und gemalt hat.
Vor einiger Zeit war ich mit meiner Mutter Essen, und sie zeigte mir Fotos von ihrem Vater, von dem ich weiss das er sie geprügelt, entmutigt, gedemütigt und lächerlich gemacht hat. Inzwischen ist er gebrechlich, dement und in einem Pflegeheim, und meine Mutter kümmert sich rührend um ihn. Ich schnippte die Fotos weg und sagte auf ihre Nachfrage: “Ich kann ihn nicht leiden, weil er dich so scheiße behandelt hat”. Darauf geschah etwas, was ich trotz ihrer emotionalen Instabilität bisher noch nicht erlebt habe. Sie hatte Tränen in den Augen, umklammerte meine Hand mit den ihren und flehte mich an, ihrem Vater zu verzeihen weil er es doch damals so schwer gehabt hätte.
Dieses Erlebnis brachte mich dazu, mich auch auf persönlicher Ebene näher mit den Anregungen aus Ihren Büchern auseinander zu setzen. Vielen Dank dafür. S. W.
AM: Sie schreiben, dass Sie unter Depressionen und selbstzerstörerischen Tendenzen leiden oder litten, aber darin keinen Zusammenhang zu Ihrer Kindheit sehen. Dann beschreiben Sie, wie Ihre Mutter Sie angefleht hat, Ihrem grausamen Großvater zu verzeihen, obwohl Sie das Gegenteil empfunden haben. Ich kann Sie nur dazu ermutigen, Ihren Gefühlen treu zu bleiben und sie ernst zu nehmen, das ist das beste Mittel gegen Depressionen. Hingegen bildet die Unterdrückung der eigenen echten Gefühle zugunsten einer Lüge eine Gefahr für den Körper und den ganzen Organismus.