Pseudotherapie

Pseudotherapie
Tuesday 05 May 2009

Sehr geehrte Frau Dr. Miller-

meine Eltern haben mir als Kind schwer geschadet, was sich mir erst
vor einigen Jahren erschlossen hat, als ich wegen schlimmer
Depressionen in psychotherapeutischer Behandlung war.
Mein Vater war der Held, das Vorbild, meiner Kindheit, was er sicher
auch wusste und für sich nutzte und nun wahrscheinlich vermisst.
Meine Mutter und mein Vater sind Persönlichkeiten mit teilweise
massiven psychischen Problemen. Sie ließen sich scheiden, als ich –
als Ältester von drei Geschwistern – sechs Jahre alt war.
Ich war meine Kindheit hindurch allein mit meinen Ängsten, Sorgen und Nöten.
Für meine Gefühle haben sich meine beiden Eltern – in meiner
Wahrnehmung, etwas anderes kann ich nicht wissen – niemals
interessiert, niemals.
Weil ich das nicht ertragen konnte, habe ich das früher ausgeblendet,
habe meine Eltern permanent, sogar vor mir selbst, in Schutz genommen
und wurde dadurch logischerweise krank, in meinem Fall depressiv.
Als ich mich meinem Vater einmal damit anvertraute, dass es mir sehr
schlecht ging, hat er mich – anstatt zu trösten – wüst beschimpft.
Dies sei nicht wahr, so schlecht könne es mir gar nicht gehen, so
seine Reaktion.
Erst Jahre später begriff ich langsam, dass es mir nach Treffen mit
ihm fast jedes Mal schlechter ging als vorher.
Ich sehe ihn hauptsächlich, weil ich dann Kontakt mit meinem kleinen
Halbbruder habe, um den ich seit Jahren in ständiger Sorge bin, weil
mein Vater auch ihm gegenüber ungerecht und jähzornig ist. Ich will
meinem Bruder der wissende Zeuge sein, den ich nie hatte.
Wann immer ich meinen Vater auf seine Ungerechtigkeiten meinem kleinen
Bruder gegenüber vorsichtig aufmerksam mache, läuft mein Vater wieder
rot an, baut sich drohend über mir auf und brüllt wie ein
Wahnsinniger. Dabei ist mir – ich nehme fast an, mitunter sogar auch
ihm selbst – klar, dass er in Wahrheit seine eigenen Eltern für deren
Missachtung und Misshandlung anbrüllt.
Mein Vater tut mir aber fortwährend Leid an und, das ist das weiterhin
große Problem, er kann sein Mitempfinden mit mir, soweit es das bei
ihm dabei oder danach überhaupt gibt – ich habe meine Zweifel und
halte ihn nach wie vor für neurotisch und mir gegenüber für
empathieunfähig – in keinster Weise ausdrücken oder sichtbar machen.
Ich will daher eigentlich am besten nichts mehr mit ihm zu tun haben.
Auch wenn ich die guten Seiten, die er schon auch hat: er kann ein
interessanter Gesprächspartner sein, manchmal vermisse –
Mein Gefühl in den letzten Jahren hat mir immer wieder bestätigt, dass
es mir besser geht, wenn wir den Kontakt meiden oder auf das
Notwendigste reduzieren.
Nun möchte mein Vater – aus aktuellem Anlass, einem erneuten Streit,
nach dem ich ihm gesagt habe, dass er mich einfach nur noch in Ruhe
lassen soll – mit mir gemeinsam einen Therapeuten aufsuchen, um
Frieden zwischen uns herzustellen.
Ich bin mir nicht sicher, ob ich das tun soll.
Einerseits fühle ich mich dazu verpflichtet, diesen Dingen soweit
möglich nachzugehen
Andererseits finde ich, er soll sich um seine Probleme mit seinem
Therapeuten kümmern, ich mit meiner Therapeutin um meine. Außerdem
habe ich die Sorge, wieder nur meinem Vater damit zu dienen, indem ich
mit ihm dorthin gehe oder möglicherweise gar an einen Therapeuten zu
geraten, der sich auf Erwachsenenseite stellt und dem Kind eine
Mitschuld gibt. Das würde ich zwar mittlerweile merken und für mich
abwehren, es würde ihm aber Auftrieb geben und er würde sich im Recht
fühlen und mich vor allen als den bösen Sohn darstellen.

Mich würde interessieren, was sie von Therapien mit Eltern und Kindern
gemeinsam halten.

Sie haben mir neulich auf meinen Brief, in dem es um Adolf Hitlers
Großvater ging, umgehend geantwortet. Das hat mich sehr gerührt und
sehr gefreut. Ich habe mich geehrt gefühlt.
Danke.

Ich bin sicher, Sie werden überhäuft mit Briefen und können kaum alle
beantworten.

Sie haben in Ihren Büchern oft zurecht darüber geklagt, dass die Wahrheit überdas Leid elterlicher Kindesmisshandlung nicht richtig gewürdigt wird.Mein Wissen durch Ihre Bücher ist mir eine permanente Hilfe. Auch in meinem Beruf, dafür bedanke ich mich herzlich,

AM: Sie fragen mich, was ich von Therapien halte, die eine Versöhnung zwischen einem schwer verletzenden Vater und seinem Sohn, der unter Depressionen litt, weil er keine Chance hatte, sich gegen diesen Vater zu wehren. Das ist in meinen Augen gar keine Therapie, sondern die Wiederholung des Missbrauchs, um dem Vater zu gefallen. Ihr Körper hat ja das ihm zugefügte Leiden gespeichert. Er würde vermutlich mit Hilfe neuer Symptome reagieren, wenn mit Hilfe dieser Versöhnungsaktion dieses Leiden verschleiert oder gar geleugnet würde, wie der Vater es schon immer getan hat. Wenn man in der Therapie die WAHRE Geschichte des Kindes sucht, darf man dieses Kind nicht wieder belügen. Der Vater muss alleine seine Therapie machen. In meinem Buch “Revolte des Körpers” habe ich dies genauer erläutert.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet