Mein Leben
Thursday 06 July 2006
Sehr geehrte Frau Miller!
Wie schon so viele Menschen zuvor, möchte Ich Ihnen für Ihre Bücher danken.
Sie geben mir in Momenten, in denen es mir schlecht geht, wieder ein kleines Stück Kraft und Hoffnung.
Ich befinde mich momentan in klassischer Analyse, aber es ist zum Verrücktwerden, ich kann meinem Analytiker keine Fragen dazu stellen, ober er mit Ihnen und Ihren Theorien vertraut ist:
Auf eine diesbezügliche Frage kommt dann eine Gegenfrage wie: Warum beschäftigt Sie das jetzt?
oder: Sie haben also die Phantasie, dass ich Alice Miller nicht kenne.
oder bezüglich Fragen zur eigenen Person der Analytikerin: Aber hier geht es doch um Sie!
Das ist ziemlich frustrierend, wenn man 4mal in der Woche zur Analyse geht und nicht weiß, ob das ganze eigentlich Sinn macht, zumal ich nicht immer das Gefühl habe, dass meine Analytikerin empathisch ist, sondern oft dass sie mich kritisiert (Wobei ich nicht weiß, ob das nicht ein Problem von mir ist, dass ich mich immer so leicht kritisiert fühle)
Wie dem auch sei, ich muss ohnehin bei dieser Analytikerin bleiben, denn nur so wird mir alles von der Krankenversicherung finanziert.
Ich möchte Ihnen ein wenig über mich erzählen:
Ich bin Medizinstudent, 23, und habe noch immer starke Selbstmordabsichten.
Als ich das Drama des begabten Kindes gelesen habe, fand ich mich wieder.
Meine Mutter hat mich auf jeden Fall emotional ausgenutzt, hat sich von mir die Liebe und Zuwendung geholt, die Ihr mein Vater nicht geben wollte, auch körperlich (Noch mit 21 habe ich ihr den Rücken und den Kopf massiert)
Ich schlief bis zum Einsetzten der Pubertät (11) im ehelichen Bett der Eltern. Immer wenn meine Füße kalt waren, nahm sie meine Mutter und steckte sie hoch oben zwischen ihre Beine ‘damit sie warm werden’
Ich wurde einige male akustischer Zeuge vom Geschlechtsverkehr meiner
Eltern und war geschockt.
Ich kann mich an kein direktes sexuelles Missbrauchserlebnis erinnern, aber mein Vater quälte mich als Kind immer als ich noch schlief und piesackte mich so lange, bis ich weinte, und meine Mutter kommen musste um mich vorm Vater zu retten.
Mit 9 Jahren fühlte ich mich vom Vater so sehr geqüält, dass ich mich umbringen wollte, nur um es meinem Vater zu zeigen und ihn zu verletzen.
Mein Vater hat auch immer genauestens meine morgendlichen Erektionen inspiziert und sich daran ergötzt.
ich fühlte mich immer ausgenutzt und angestarrt.
Mein Bruder, der vom Vater genauso gequält wurde, traktierte mich auch physisch, das heißt er schlug mich immer wieder (er ist 10 Jahre älter als ich). Ich habe heute noch Angst vor ihm und traue mich ihm gegenüber nicht stark zu sein.
Selbst habe ich mit 9 Jahren ein sexuelles Verhältnis zu meinem damaligen gleichaltrigen besten Freudn begonnen und dessen um einige jahre jüngere schwester. ( nachdem wir die pornos vom vater des freundes schauten)
diese ‘beziehung’ lief bis 14. ich frage mich, ob ich selbst missbraucht wurde, weil ich soetwas tat. ich kann mich nicht erinnern!
Heute bin ich 23 und fühle mich vollends als Versager, weil ich mich nicht entscheiden kann, ob ich hetero oder homosexuell bin, mit beidem bin ich unzufrieden.
Ich bin was sexualität anbelangt extrem unsicher, und hasse mich, weil ich so unerfahren bin (männliche jungfrau mit 23) und fühle mich als versager.
Heute quält mich die Frage, was dafür verantwortlich zeichnet, dass ich im sexuellen Bereich so unsicher bin und keine vernünftige beziehung zustande bringen kann.
Mit 14 hatte ich noch gefühle für frauen, die ich aber im laufe der zeit verlor, weil ich nur zurückweisungen einstecken musste (aufgrund meines aussehens – ich finde mich hässlich) und entwickelte gefühle für männer, die ich aufgrund ihrer schönheit beneidete.
ich finde mich heute aber ohnehin zu hässlich um schwul zu sein und unfähig für eine frau etwas zu empfinden.
Meine frage ist: glauben sie spielen die konkreten erfahrungen (zurückweisungen von mädchen aufgrund des aussehens) oder eher die missbrauchserlebnisse eine größere rolle bei der entwicklung einer reifen sexualität?
ich fühle mich einfach als der größte versager auf erden – weil ich es nicht schaffe, ein richtiger mann zu sein, weil ich so sentimental und gefühlsbetont bin und nicht ‘hart’ sein kann. ich kann extrem empathisch sein, bin aber unfähig wut und aggression auszudrücken, aus angst verlassen zu werden. deswegen hasse ich mich auch, weil is so ein weichei bin (wegen meiner mutter??)
Ich weiß nicht, ob ich die analyse fortsetzen soll, denn bei meiner analytikerin fühle ich mich oft nicht verstanden: wenn ich ihr schildere wie schrecklich,ungerecht und gemein ich die welt empfinde und warum ich mich so elend fühle, meint sie: also heute fühlen sie sich wieder von jedermann gequält. das macht mich zornig, weil ich es sich für mich so anhört, als wäre es so leicht zwischen quälender und nicht-quälender realitätswahrnehmung umzuschalten. ich fühle mich nicht verstanden.
Bitte antworten Sie mir, es bedeutet mir viel! Herzliche Grüße aus Wien, R. H.
AM: Sie haben eine schreckliche Kindheit gehabt und brauchen natürlich dringend einen wissenden Zeugen, der Ihnen mit Empörung beisteht und seine Gefühle zeigt, sie nicht hinter einer routinemässigen Neutralität verbirgt. Doch die Ausbildung zum Analytiker erlaubt dies nicht, daher spüren Sie mit Recht, dass dies nicht Ihr Weg sein kann. Es ist seltsam. Zuerst schreiben Sie, dass Sie eine klassische Analyse bei einem Mann machen und dann entpuppt sich Ihr Analytiker als Frau. So bleibt das Geschlecht Ihres (r?) Therapeuten für mich unklar. Hingegen ist Ihre Kritik und Beschreibung der Situation klar und absolut nachvollziehbar. Sie fragen mich, was Sie tun sollten, fügen aber gleicht zur Vorsicht hinzu: “Wie dem auch sei, ich muss ohnehin bei dieser Analytikerin bleiben, denn nur so wird mir alles von der Krankenversicherung finanziert.” Dieser Satz erinnert mich an eine Geschichte, die mir vor Jahren erzählt wurde: Jemand geht abends durch eine schwach beleuchtete Straße und sieht einen Mann, der unter einer Laterne etwas sucht. Auf seine Frage, ob er ihm helfen könne und was er denn suche, erfährt er, dass es sich um die Brille handle. „Sind sie sicher, dass Sie sie hier verloren haben?”, fragt er den besorgten Mann. „Nein”, sagt dieser, „es war vielleicht weiter vorne, aber dort ist es ganz dunkel, also kann ich doch nur hier suchen, wo es Licht gibt”. Diese Geschichte illustriert die Lage beinahe aller Kinder, die auf Verständnis, Liebe und Respekt ihrer Eltern angewiesen sind, aber nur Ausbeutung, Demütigungen und Schläge bekommen. Sie hören dennoch nie auf, auf die Liebe von Menschen zu warten, die der echten Zuwendung gar nicht fähig sind, weil sie keine Wahl haben und gar nicht wissen, dass es etwas anderes als Missbrauch (den sie als solchen gar nicht erkennen) geben kann. Aber ein Erwachsener ist nicht darauf angewiesen, sich täuschen zu müssen und zu glauben, dass es für ihn keinen anderen Weg geben kann. Den gibt es immer, sobald man bereit ist zu sehen, wie man als Kind getäuscht wurde, und sich dies auf keinen Fall weiter gefallen lässt. Ihre Versicherung mag die Rolle Ihrer Eltern oder der Laterne spielen, die Ihnen “dienen” sollen. Aber Ihre Eltern haben Sie mit ihren “Diensten” sehr schwer geschädigt, und eines Tages werden Sie fühlen müssen, welche Wut das in Ihnen hinterlassen hat. Wenn jemand Sie bei dieser Wut empathisch begleiten kann, werden Sie Ihre Möglichkeiten entdecken und Bindungen aufgeben können, die Sie gezwungen haben, sich täuschen zu lassen. Ihr Brief zeigt, dass Sie durchhaus dazu fähig sind, die Wahrheit Ihrer Kindheit zu sehen, Schritt für Schritt, und aufzuhören, die an Ihnen begangenen Misshandlungen zu tolerieren, zu verharmlosen oder verstehen zu wollen.