Die Traurigkeit
Thursday 29 October 2009
Liebe Frau Miller,
ich lese fast täglich auf Ihrer Webseite, und ich lese wieder und wieder meine Zuschriften an Sie. Diese geben mir Kraft, sie sind groß und gewaltig, kraftvoll im besten Sinne. Ich bin stolz auf diese Briefe. Aber ich selbst fühle mich oft nicht so.
Die Traurigkeit, die ich über 30 Jahre in mir begraben habe, die ich nur als innerliche Wut und Durchhaltewillen gespürt habe, die kommt nun zum Vorschein. Sehr oft bin ich traurig, sehr oft fühle ich mich von meinen Eltern aufs neue mißbraucht, sehr oft drohe ich in diesem Gefühl zu ertrinken, die verfluchte Vergangenheit hat mich dann fast vollständig gefangen. Nur manchmal durchfließt es mich dann: He, du bist jetzt erwachsen, sie können dir nicht mehr wehtun, du bist jetzt groß und stark! Dann lache ich unter Tränen und spüre die Wahrheit in diesem Gedanken.
Ich lebe stets und ständig in zwei Welten, dem Heute und dem Gestern. Alles im Heute kann mich an das Gestern erinnern und das tut es auch. Jede Geste meiner liebevollen Frau, jeder Blick und jedes Wort meiner Kinder sprechen mich immer doppelt an und erinnern mich an meine Vergangenheit. Das ist sehr kräftezehrend und ich merke es an meinem großen Schlafbedürfnis.
Sie schreiben von meiner ungewöhnlichen Fähigkeit, meine Wahrheit zu ertragen. Ich weiß nicht so recht… ich fürchte, ich entspreche noch nicht diesem idealen Bild. Ich sehe meine Wahrheit, aber kann ich sie ertragen? Lange habe ich mich in meiner Psychoanalyse geweigert, diese Wahrheit zu sehen. Ich habe nach etwa 90 Sitzungen die Analyse beendet (unterbrochen?). Mein Therapeut hat es mit meiner Verleugnung nicht leicht gehabt. Ab der 40. Sitzung etwa hätte er sichere Hinweise auf den sexuellen Mißbrauch gehabt, ich habe das damals rundweg abgelehnt. Ich mußte mich extrem langsam mit diesem Gedanken anfreunden (was für ein Wort…) Mir fehlen konkrete Erinnerungen, aber Gefühle, auch aus der späteren Kindheit und dieser doch fast konkrete Traum von der Situation in der Badewanne sind deutlich vorhanden. Die Angst des Kindes vor dem für unglaubwürdig gehalten zu werden wirkt nach. Sie bohrt und wühlt immer noch, der Täter ist noch mächtig, obwohl er schon tot ist.
Warum halten die Menschen an ihrer Verleugnung fest? Ich glaube, der Augenblick des Mißbrauchs der elterlichen Macht ist entscheidend. „Du bist allein. Dir glaubt doch sowieso keiner!“ – das ist der Kern des ganzen Elends. Es war der Kern meines Elends. Die Geschichte ist so fürchterlich und eben durch die Drohung des Täters geschützt. Und bei mir das Auslachen, ich höre ihn lachen, nicht höhnisch, eher wie ein Kind, das mitlacht, um nicht selbst verlacht zu werden, wenn ein anderes geärgert und ausgelacht wird. Eine bemerkenswerte Gedankenkette – so schleppt sich das Elend durch die Generationen.
Ich befürchte doch immer noch, daß meine Geschichte von anderen für unglaublich gehalten wird, nichts ersehne ich (Kind) mir mehr als die feste Hand auf meiner Schulter und die kurzen Worte „Ich verstehe.“ und „Ich weiß.“ Aber will und kann ich mich vor meiner Frau zum Beispiel derartig entblößen? Was ist mit meiner Schwester, die ihren Vater noch vergöttert… Sie sehen, liebe Frau Miller, er hatte ja recht, der Perversling, ich bin ja immer noch „allein“, Sie als meine Insel des Verständnisses einmal ausgenommen.
Als Kind hatte ich mein Taschenmesser auf dem Nachttisch liegen, falls etwas passieren würde… Ich wußte nicht, was es sein sollte. Während der Analyse kaufte ich mir ein großes, scharfes Messer und interessierte mich für den Messerkampf. Natürlich war dieses Messer das Messer aus meiner Kindheit, übrigens das, mit dem ich später den Mann erstach, der in meinem Traum/Erinnerung mich als Kind vergewaltigte. Alles paßte, alles war schon da (z.B. diese kleinen Übereinstimmungen wie die Mütze meines Vaters auf dem Fahrrad und die Mütze des Mannes in der Laube…), aber ich weigerte mich lange, das vor mir selbst zuzugeben. Der Tote war noch mächtig; er ist es noch. Zulassen konnte ich die Erinnerung erst nach dem wirklichen Tod des Vaters. Darauf können viele andere nicht erst warten. Ist das ein weiterer Grund für den Schutz der Täter?
Habe ich die Fähigkeit, die Wahrheit zu ertragen? Ich hatte sie immer! Ich mußte. Ich war immer auf mich gestellt. Die Eltern ohne Schutzfunktion, mein einziger Schutz meine Innenwelt. Ich mußte doch immer alles allein durchstehen! Von daher kommen meine Fähigkeiten: schnelle systematische Analyse des Ist-Zustandes, extreme Flexibilität beim Überleben; Abspalten des Schmerzes – das ist vorbei; Abstand vor anderen als Schutzfunktion – das ist noch lange nicht vorbei.
Der Preis für das Zulassen der Wahrheit? Meine anhaltende Traurigkeit. Aber im Gegensatz zur vorherigen diffusen Depression weiß ich, warum ich litt und leide. Das ist ein nicht zu unterschätzender Vorteil, jetzt kann es aufwärts gehen.
Schwierig ist das Bewußtwerden der Defizite. Täglich passiert es, daß ich mich fast peinlich berührt fühle, weil ich mit für andere alltäglichen Situationen mit meiner Familie, besonders mit den Kindern konfrontiert bin. Ich erfuhr nicht viel anderes als Lieblosigkeit, Hyperkonsequenz, Disziplin, Bestrafung, Abstand, Verschlossenheit, Gewalt. Und jetzt kann und soll ich es besser machen? Das sind echte Defizite, wer kann mir sagen, was „richtig“ ist? Ja doch nur mein Gefühl. Und das ist oft überlagert mit Traurigkeit aus der Erinnerung: „Da wäre dir jetzt das passiert, jetzt wärst du ignoriert worden, jetzt geschlagen und jetzt mit Zynismus bedacht und allein.“ Das ist der tägliche Quell meiner Traurigkeit.
Aber es gibt auch Glück, unendliches Glück und langsam die Fähigkeit es wahrzunehmen und zu genießen. Einfache Dinge: Meine Kinder fragen mich um Rat – das hätte ich nie getan, was hätte es mir genutzt? Wer nicht bescheid weiß, sollte besser die Klappe halten. Meine Kinder lachen mit mir – das wagte ich nicht, wenn ich verriet, was mir gefiel, konnte es mir im nächsten Moment entzogen werden. Meine Kinder suchen die körperliche Nähe – das kenne ich nicht, die größte Nähe war der abendliche Händedruck zum Gutenachtsagen… Und so weiter, wirklich die einfachsten Dinge sind außergewöhnlich. Namen von Bäumen, Blumen, Wolken, Tieren habe ich mir angelesen, hat sie mir doch niemand erklärt… Mein Hirn saugt immer noch alles Faktenwissen auf, was mir so den lieben langen Tag begegnet. [Hier höre ich den selbstgerechten Ton meiner Mutter: Na, da haben wir ja doch nicht alles falsch gemacht, kommt dir doch zugute!]
Was hält die Menschen noch in den Gefängnissen ihrer Kindheit? Es sind die anderen, sagen wir ruhig die Mithäftlinge. Sie halten uns oft genug unten im Morast der Bestialitäten.
Was wird denn angeboten: Meditation, ein Reizthema für mich! Wahnsinn, warum wird allerorten meditiert und noch mal meditiert. Was gibt es zu vergessen? Warum müssen wir uns beruhigen, warum dürfen wir nur „nichts“ (!!!) spüren, nur die Körperfunktionen? Aber nicht den Schmerz? Alles vergessen? Warum das Bewegen in vorgegebenen Mustern; weil wir (Kinder) es so kennen? Weil uns unsere Eltern so pflegeleicht „liebten“? Woher kommt die Meditation – aus Asien, aus Ländern mit furchtbaren Familienverhältnissen, strenger Disziplin, funktionierenden Menschen. Die Meditation kommt in vielen Facetten, weil die Leute narkotisiert und glücklich wirken, darf sie nicht hinterfragt werden… Was ist mit den Heilsbringern Dalai Lama, Gandhi und ähnlichen unhinterfragbaren Gurus, den guten Vätern, die bedenkenlos die Kinder ihrer Völker opfern… und das im körperlichen, auch im sexuellen Sinne…
Was wird uns noch angeboten, Sie, liebe Frau Miller, wissen es doch auch längst: Freud. Verhaltenstherapien, die fortgesetzten Mißbräuchen ähneln. Das Kurieren an den Symptomen, die uns der Körper präsentiert: Eßstörungen, Zwangserkrankungen. Wer wagt zu fragen, was dahinter steckt? Wer das wagt, muß das für sich selbst schon getan haben. Wieviele sind das?
Was können wir tun?
Ausgehend von meiner Geschichte denke ich, versuchen wir, uns als wissende und handelnde Zeugen zur Verfügung zu stellen. Was Unrecht ist, muß so benannt werden, auch wenn es oft die, die es betrifft, nicht selbst erkennen und wagen. Dann helfen wir ihnen doch und benennen es. Ich versuche, in solchen Situationen Partei zu ergreifen, das ist für die Betroffenen oft überraschend und hilfreich.
Ich hatte einen guten Menschen in meiner Kindheit, es war mein Großvater, bei dem ich meine Sommerferein verbringen durfte. Der war einfach nur da, war nie zynisch, akzeptierte mich wie ich war. Er spielte mit mir, von den Eltern gab es Spiele zum Alleinbeschäftigen. Er hatte Lob für mich, lobte mich vor meinen Eltern. Ich hörte es heimlich und war irrsinnig glücklich. Er ging mit mir zum Arzt. Wie liest sich das? Furchtbar – in der Negation auf meine Eltern bezogen. In einem Sommer war er täglich mit mir unterwegs mit dem Taxi in die Kreisstadt, zum Arzt, zur Apotheke. Ich hatte die größten Sorgen, ihm zur Last zu fallen (als 10/12jähriger) – niemals fiel ich ihm zur Last. [Das läßt mich an einen, vielleicht an den Arztbesuch mit meiner Mutter beim Kinderarzt denken: Die Ärztin: Der Po ist so rot, hat er vielleicht Durchfall? Meine Mutter: Ja. Ich sehe hilflos zur Ärztin, mit roten brennenden Wangen. Schweigend. Ich hatte keinen Durchfall.] Ich komme immer mehr zu dem Schluß, das meine Mutter bescheid wußte, daß sie für die vermeintliche Rettung ihres grandiosen Ehelebens schwieg und mich zur Opferung preis gab. Interessanterweise antwortete ich in meiner allerersten Sitzung meinem Therapeuten auf die Frage, ob ich wirklich eine Therapie machen wolle: Ja, ich will endlich wissen, warum ich schon immer eine andere Mutter haben wollte. Das war also präsent, an ihr konnte ich meine Gefühle schon immer abarbeiten, der Vater war geschützt.
Sie fragen nach Auswirkungen meines Lebensweges auf meine Praxis. Sicher gibt es die, aber etwas anders als vielleicht gedacht. Ich bin Zahnarzt und habe so natürlich auch mit Ängsten, Schmerzen und Familienverhältnissen zu tun. Geholfen haben meine Erkenntnisse zuerst mir. Mir gelingt es besser, die Leute einzuschätzen, Projektionen zu erkennen. Der Umgang mit dem Schmerz anderer ist nicht leicht, ich finde mich oftmals in der Rolle des Retters, des strafenden Vaters, alles Dinge, die in mich hineinprojiziert werden. Patienten werden zu hilflosen Kindern, die entweder hilflos und initiativlos bleiben oder dagegen aufbegehren und mit rüden Attacken den Verlust ihrer Kontrolle bekämpfen. Jetzt erlange ich mehr und mehr die Fähigkeit, das einfach gesagt nicht persönlich zu nehmen. Und so können auch die Patienten ihre Würde behalten, ich muß nicht auf dem Niveau von Projektion und Gegenprojektion arbeiten.
Natürlich sehe ich gerade bei der Behandlung von Kindern nun ganz anders hin und entdecke vieles: Vernachlässigung, absolute Fügsamkeit, überhöhte Empfindlichkeiten schon auf Berührung, Drohungen, Zynismus und Gedankenlosigkeiten von Eltern. Manchmal denke ich, daß es die Eltern darauf anlegen, ihre Ängste vor der Behandlung unbedingt an die Kinder weiterzureichen, das betrifft mindestens 90 %. Sie können es nicht anders, und da sind wir doch schon wieder beim „Alice-Miller-Thema“, nicht wahr?
Liebe Frau Miller, dieser Brief ist wieder sehr persönlich, was ja auch nicht verwunderlich ist. Eine wissenschaftliche Abhandlung kann man bei dem Thema als Betroffener nicht abliefern. Ich finde es wunderbar, mit Ihnen kommunizieren zu können. Vielen Dank für Ihr Interesse.
AM: ich würde gerne Ihren Brief veröffentlichen, aber warte noch auf Ihre ausdrückliche Zustimmung. Meine Überlegung über eine mögliche Enttäuschung bezog sich auf eine Art Frustration, die sich einstellen kann, wenn man sich so ehrlich , so sehr aus der Tiefe geäussert hat und kein Echo der Besucher bekommt, weil die meisten Menschen an diese emotionale Ehrlichkeit gar nicht gewohnt sind und einfach aus purer Verlegenheit schweigen. Doch nachträglich denke ich, dass meine Nachfrage gar nicht nötig war, denn Sie können eine solche eventuelle Frustration vermutlich gut verkraften, da Sie mit liebenden Menschen leben und nicht allein.