Gewalt gegen Säuglinge

Gewalt gegen Säuglinge
Saturday 22 October 2005

Sehr geehrte Frau Miller,

mit großem Interesse lese ich im Internet Ihre Artikel. Mittlerweile begreife ich, dass es für das Handeln einiger Menschen tatsächlich Ursachen gibt obwohl das für mich persönlich keine Rechtfertigung darstellt. Auf eine Frage habe ich jedoch bislang keine Antwort gefunden. Vielleicht können Sie mir die geben. Immer wieder liest man, dass Kleinkinder, insbesondere Säuglinge unter 1 Jahr am meisten von Gewalttätigkeiten innerhalb der Familie betroffen sind. Warum eigentlich? Ich kann es nicht verstehen. Für jeden “normalen” Menschen ruft der Anblick eines Säuglings oder Babys doch Beschützerinstinkte hervor. Man möchte alles tun, damit es ihm gut geht, ihn liebkosen, streicheln, sich freuen, wenn erlacht oder trösten, wenn er weint. Warum gibt es Menschen, bei denen keine derartigen Assoziationen auftreten? Die ihrem Kind entsetzliche Dinge antun können, ohne auch nur eine Spur von Re zu zeigen? Was geht in diesen Menschen in dem Augenblick vor, wenn sie eine kleinen zarten Babykörper aufs Schlimmste misshandeln? Ist es das Gefühl der Überlegenheit, das Wissen darum, dass sich so ein kleines Wesen nicht wehren kann?
Bitte erklären Sie es mir. Ich bin selbst Mutter eines 6-Monate alten Sohnes und verfolge gerade den Fall des kleinen Christians aus Farchant, der nur 11 Wochen alt wurde, weil er von seinem eigenen Vater so brutal misshandelt wurde, dass er eines Morgens einfach nicht mehr atmete. Wenn ich mir die grausigen Sachen vorstelle, die man mit dem kleinen Wurm gemacht hat, sehe ich unwillkürlich immer mein eigenes Kind und dabei verliere ich fast den Verstand. Ich habe für solche Leute kein Mitleid übrig und ich bin auch nicht der Meinung, dass sie ein Recht auf einen fairen Prozeß haben. In solchen Momenten bedaure ich es, dass wir hier nicht in den USA leben. Denn die Todestrafe erscheint mir in diesen Fällen sehr wohl angebracht.

In Erwartung Ihrer baldigen Antwort
verbleibe ich mit freundlichen Grüßen

S. K.

AM: Die Antwort auf Ihre Frage “Wie kann man ein Baby schlagen?” finden Sie in allen meinen Büchern und Artikeln, insbesondere in “Der Fall Jessica”. Ich stimme Ihnen vollkommen zu, dass die Antwort keine Rechtfertigung beinhaltet, aber wir brauchen sie dringend, wenn wir die Tradition der Kindesmisshandlung verlassen wollen.
Ich verstehe Ihre Empörung und Ihr Entsetzen über die Misshandlungen von Säuglingen sehr gut. Es waren diese Gefühle, die mich zu meinen Forschungen, zum Schreiben meiner Bücher und zur Eröffnung dieser Website geführt haben. Bald stellte ich mit Erstaunen fest, dass sehr wenige Menschen sich für dieses tabuisierte Thema interessieren und ich nirgends offene Türen dafür fand. Als ich kürzlich über den Mord einer Mutter an ihren neun Neugeborenen schreiben wollte, fand ich keine einzige Zeitung, bei der ich meinen Artikel hätte publizieren können. Und als ich am Fall Jessica aufzeigen wollte, wie es zu Kindermorden kommt, benahmen sich die angefragten Journalisten wie ängstliche kleine Priester im Mittelalter. Auch beim Vatikan gelang es mir nicht, Mitgefühl für geschlagene Säuglinge zu wecken. Ich bin auf die totale Gleichgültigkeit gestoßen.
1980 publizierte ich im Buch “Am Anfang war Erziehung” Erziehungsratschläge aus dem 19. Jahrhundert, die vierzigmal aufgelegt worden waren und in denen Eltern angehalten wurden, den Kindern von den ersten Tagen an mit “körperlichen Ermahnungen” gute Manieren beizubringen. Da erwartete ich ein universelles Aha-Erlebnis. Doch nichts dergleichen trat ein. Ich veranlasste eine statistische Erhebung in Frankreich, um zu erfahren, in welchem Alter die Mütter ihre Kinder mit Schlägen zu erziehen beginnen, und die Antwort war: im Alter von 18 Monaten bei 89 % der Mütter. Die restlichen 11 % sagten, sie würden sich an das Alter nicht mehr genau erinnern. Als eine psychologische Zeitschrift diese Ergebnisse nach langem Zögern publizierte, erwartete ich einen Aufschrei der Empörung bei den Lesern, und wieder gab es fast keine Reaktionen.
All diese Erfahrungen lehrten mich, dass das, was Sie als ein normales Verhalten dem Kleinkind gegenüber bezeichnen, nämlich das Beschützenwollen, leider eine Ausnahme bildet. Es gehört offenbar zur Regel, dass man kleine Kinder mit Klapsen erzieht und ihnen Angst und Schmerzen zufügt. Warum? Nur weil man dies selbst als Kind erfahren hat und die Absurdität lernen musste, dass dies zu unserem Besten geschah. Die unterdrückte Wut entlädt sich später an den eigenen Kindern. Sie haben Recht: Je kleiner das Kind, umso überlegener fühlt sich der Erwachsene und hofft, die in seinem Körper gespeicherten Erinnerungen an frühe Misshandlungen so vergessen zu können.
Ich denke nicht, dass die Todesstrafe die Lösung sei. Aber eine weit angelegte Aktion zur Aufklärung der Bevölkerung wäre dringend notwendig. Vielleicht haben Sie eine Idee, wie man dies bewerkstelligen kann. Leider ist kaum jemand an einer solchen Aktion interessiert, weil fast jeder als Kleinkind geschlagen wurde und lernen musste zu glauben, die Schläge hätten ihm gutgetan. Die meisten Menschen hängen oft ihr Leben lang an diesem Glauben und erziehen ihre Kinder so, wie sie einst erzogen wurden. So schützen sie sich vor der Erkenntnis, dass sie als wehlose kleine Kinder misshandelt wurden. Sie wollen auf keinen Fall wissen, dass auch sie mit jedem Schlag ihr Kind bereits misshandeln und lebenslänglich schädigen, sei es “nur”, indem sie seine Fähigkeit zur Empathie und zum logischen Denken zerstören.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet