Das zwanghafte Warten

Das zwanghafte Warten
Wednesday 02 December 2009

Liebe Frau Miller,

ich bin begeistert von Ihrem Mut und ihren Ideen, die mir bestätigen, dass Missbrauch viele Gesichter haben kann.

Doch ich schreibe auch an Sie, weil mich gerade jetzt nach einer Krebserkrankung eine Frage umtreibt. Ich hatte ein Mammakarzinom, das in sehr frühem Stadium entdeckt und entfernt wurde. Nach Erkenntnissen der psychosomatischen Medizin ist das ja ein Hinweis auf gestörte mütterliche Beziehungen. Da ich aufgrund des kleinen Befundes direkt in der OP bestrahlt wurde, folgten keine weitere Bestrahlungen und auch keine Chemotherapie. Ich gelte im Augenblick als geheilt – was die rechte Brust angeht. Bei den Voruntersuchungen fand man nichts in der linken Brust, doch man würde dort gerne weitersuchen, weil verdächtiger Mikrokalk entdeckt wurde. Im Moment will ich mich keiner weiteren Punktion mehr unterziehen, weil ich die körperlichen und die seelischen Qualen scheue. Ich vertraue darauf, dass hier nichts Bösartiges vorliegt, lasse mich aber zumindest in vierteljärhlichen Abständen mit Ultraschall untersuchen. Falls sich Veränderungen zeigen, kann ich ja immer noch aktiv werden.

Um das Übel abzuwenden, habe ich mich auf die Suche nach den psychsichen Ursachen meiner Krankheit begeben und einen Riesenstreit mit meiner 18-jährigen Tochter als Auslöser entdeckt – erst einmal. Sie war von klein auf ein schwieriges Kind, was mit Sicherheit an unserer schwierigen Situation: Psychose des Vaters, Scheidung, Alleinerziehend, neuer Partner.

Die große Auseinandersetzung mit ihr war vor etwa einem Jahr und seither lebt sie nicht mehr bei uns, sondern studiert in einer Stadt weit weg. Der Kontakt besteht ganz distanziert – ich weiß, wo sie ist und was sie macht, mehr nicht. Wenn ich jetzt auf diese Zeit des Streites zurückblicke, belastet mich eigentlich noch mehr als diese Auseinandersetzung die Tatsache, dass sich meine Eltern in die ganze Geschichte involvieren ließen. Sie nutzten die Gelegenheit, mir mal wieder vorzuhalten, welch schlechte Mutter ich sei und gaben mir die Schuld an allem. Ich fühlte mich von ihnen regelrecht verraten. Heute aus der Distanz betrachtet, hat mir die Trennung von meiner Tochter sehr weh getan, doch es war ein Schritt in ihre eigene Welt, der mir gesund und normal scheint.

Nicht so das, was meine Eltern hier tun. Ich habe mit ihnen Kontakt auf Sparflamme, doch sie wollen sich immer wieder als Retterin meiner älteren Tochter aufspielen – habe noch eine, die zwei Jahre jünger ist. Dabei spielt meine Mutter ein falsches Spiel: Ab und an schlägt sie sich auf meine Seite und gibt mir Recht, will dafür aber als unausgesprochene Gegenleistung, dass ich mich wieder in ihre eigenen Probleme involvieren lasse. Sie hatte schon vor meiner Geburt und der meines Bruders Eheprobleme. Schon ganz früh wurde ich in diese Problematik einbezogen, sollte den Mittler spielen und manchmal denke ich, wir beiden Kinder wurden im Prinzip nur gezeugt, um eine Ehe zu retten, die schon gar nicht mehr bestand. Dann fühle ich mich ebenso benutzt wie in den Momenten, in denen ich mich tatsächlich zwischen die Fronten bringen ließ. Solche Momente gab es immer wieder, wenn mein das Verhältnis meines Vaters mehr Bedeutung gewann als es ihr recht war. Dann suchte sie Menschen, die sich für sie einsetzten. In diese Falle bin ich öfter getappt, doch beim Gedanken daran werde ich wütend. Was kann eine Mutter von ihrem Kind verlangen? Zumal sie sich nie um uns gekümmert hat, immer ihren Beruf an erste Stelle gestellt hat.

Meine Eltern waren immer nur mit Geldverdienen beschäftigt und hatten für Erziehung schlichtweg keine Lust und keine Zeit. So hatte ich schon früh sehr viel Freiheit – ich konnte tun und lassen, was ich wollte. Ohne Rücksicht auf Verluste. Erziehung hat höchstens von Außenstehenden stattgefunden. Hatte ich nicht ein Recht auf elterliche Erziehung? War ich es nicht wert, dass meine Mutter sich um mich kümmerte? Ich erinnere mich noch gut daran, dass meine Eltern sich immer über mich amüsierten, wenn ich über die Stränge schlug, wenn ich schmutzig wie ein „Russenmädchen“ nach Hause kam. Sie freuten sich auch, als ich im Urlaub in meinen kleinen Plastikeimer pinkelte und das Gemisch dann trank – mein Vater hat mich dabei sogar gefilmt! Widerlich. Konsequenzen habe ich nie kennen gelernt. Dafür aber Heuchelei. Die Affären meines Vaters wurden meistens geleugnet, außer dann, wenn meine Mutter Unterstützung brauchte – dann hörten wir plötzlich, dass er zu einer Geliebten geht. Am andern Tag hieß es dann wieder, das wäre nur Spaß gewesen. Dabei wurde ich schon mit drei Jahren Zeugin von einem Streit meiner Eltern, der sich um das Verhältnis meines Vaters mit einer anderen Haushälterin drehte. Ich durfte nicht sehen, durfte nicht merken, was da gespielt wurde – das ist mir erst viel später klar geworden.

In einer Therapie konnte ich dann herausfinden, dass ich durch diese ganzen Ereignisse unsicher wurde, ob ich meinen Gefühlen und meinen Wahrnehmungen wirklich trauen kann. Zu dieser Unsicherheit kam das Gefühl, dass meine Eltern kein echtes Interesse an mir hatten. Ich begann eine Drogenkarriere: mit 14 nahm ich eine Überdosis an Tabletten, mit 16 kam ich in Frankreich für einen Tag ins Gefängnis und bis ich 18 war hatte ich noch öfter Konflikte mit der Polizei. Schließlich geriet ich in Fixer-Kreise, doch Gott sei Dank griff ich nie zu den ganz harten Drogen und kam mit dem Leben davon. Es war eine Gratwanderung, die meine Eltern wohl auch nie interessiert hat. Schließlich habe ich die Kurve gekriegt, doch meine Ehe ist gescheitert und meine Kinder müssen letztendlich auch viel von dem ausbaden, was ich als Defekt aus meiner Kindheit mitgebracht habe.

Ich begreife heute dank Ihrer Bücher, dass die Verletzungen tief sitzen und für vieles in meinen Beziehungen verantwortlich sind. Dabei hoffe ich, dass dieser Weg des Erkennens mir auch hilft, gesund zu werden und zu bleiben.

Doch ich weiß noch immer nicht, wie ich vor dem Egoismus meiner Mutter schützen kann. Wieso sieht sie nur ihre eigenen Probleme? Wieso kann sie nicht erkennen, dass ich ihre Unterstützung bräuchte statt ihre Intrigen?

Ihre Bücher haben mir eigentlich klar gemacht, dass auch ich in meiner Kindheit missbraucht wurde, wenn auch nicht körperlich. Und dass ich auf die Liebe und die Unterstützung meiner Eltern mein ganzes Leben lang vergeblich warte. Doch es bleibt das Gefühl der Sehnsucht, das mir noch immer die Tränen in die Augen treibt. Ab und an mischt sich die Wut bei und ich weiß, dass ich mich in ihrer Umgebung nie sicher fühlen kann, dass ich stets auf der Hut sein muss, nicht wieder instrumentalisiert zu werden.

Herzliche Grüße

B.Q.

AM: Ich denke, dass Sie einer neuen Erkrankung entgegenwirken können, wenn Sie Ihre Gefühle voll und ganz ernst nehmen und das zwanghafte Warten aufgeben, dass Ihre Eltern sich ändern. Das wird kaum geschehen, aber auch falls es geschehen könnte, dem kleinen Kind, dass so gelitten hat und in Ihnen, in Ihrem Körper noch lebt, wird dies kaum nützen. Dieses Kind braucht SIE und Ihr Verständnis, um das hoffnungslose Warten aufzugeben und gesund zu bleiben.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet