Der innere Kompas

Der innere Kompas
Sunday 14 June 2009

Hallo liebe frau miller!

Ich verstehe ihre bücher und ich habe teilweise die trauer über meine kindheit erleben dürfen. Intellektuell verstehen ist noch weit entfernt vom zulassen der adäquaten gefühle. Ich sehne mich nach meinen gefühlen, doch die versteinerung sitzt fest. Meine wut ist sehr tief vergraben, nur sehr zaghafte andeutungen lassen mich ahnen, was noch alles unterdrückt ist. Lange habe auch ich versucht meine eltern zu verstehen und wartete auf ihre wahre liebe… Ich habe soviel energie in die erforschung meiner eltern und in meine von ihnen vorgegebene funktion gesteckt, dass nichts mehr für mich übrig blieb. Die rollen waren vertauscht. Mein vater verstarb 2007 und ich bin sehr erleichtert darüber. Seitdem kann ich klarer sehen und komme meinen gefühlen etwas näher. Ich habe ihn noch die letzten wochen bis zum tod begleitet, wie ich jetzt weiß als brave, pflichtbewusste tochter. Das kann ich nun nicht mehr, da ich mehr über meine kindheit fühlen kann. Ich will und kann ihnen nicht verzeihen. Zu meiner mutter habe ich seit fast 1,5 jahren keinen kontakt und kann ihn mir auch nicht mehr vorstellen, geschweige denn sie im alter zu pflegen. Ich habe keine worte mehr für sie zur verfügung und habe kein interesse mehr an ihren leiden, deren verantwortung sie immer abgegeben hat. Sie kann ihre fehler nicht sehen und fühlt sich als alleiniges opfer ihres ehemannes und kann kein verständnis für das leid ihre kinder aufbringen, die es ja besser hatten als sie und ihr auch die hand nicht so locker saß wie unserem vater. Mein vater hat seine wut, aggression ausgelebt, ich hatte als kind todesangst durch seine unberechenbaren brüllattacken, schlagen… Er hatte kein mitgefühl, gab es einen unfall, war höchstens wichtig, ob die brille heil war, die verletzungen der tochter waren gleichgültig. Meine mutter hat anpassung und depression gelebt, sie hat kein selbstbestimmtes leben und ihre ungestillten bedürfnisse mussten die kinder erfüllen. Scheiß spiel! Ich bin genau wie meine mutter und das ist eine bittere erkenntnis.

Ich weiß nicht genau wer ich wirklich bin, was ich kann & will, brauche lange für entscheidungen, versuche mich weiter kennenzulernen… Seit ich für meine kindheit offener bin, entwickelt sich immer mehr ein draht zu kindern, der kontakt entsteht ganz natürlich. Das ist für mich die auffälligste wendung, denn ich wusste lange nichts mit kindern anzufangen, mit 16 war ich sehr überzeugt nie welche zu haben und abzutreiben. Darüber bin ich heute mit 34 jahren tief erschreckt. Sorgen macht mir mein berufliches da sein, ich weiß nicht was mir freude macht. Habe schon oft gewechselt und es erscheint mir mittlerweile logisch, das es so ist, da ich mich selbst kaum kenne. Ich würde gern mit kindern arbeiten, doch tappe im dunkeln wie ich es finanziell…umsetzen kann und manchmal verlässt mich der mut und ich zweifle an mir. Immer wieder bin ich sehr euphorisch und probiere etwas neues aus, das sich dann als nicht passend heraus stellt. Ich bin sehr unsicher. Früher habe ich ignoriert, dass ich etwas tat, was mir nicht entspricht und heute gebe ich vielleicht zu schnell auf? Oder erkenne ich es schneller? Ich traue leider meinen gefühlen nicht oder kann sie nicht einordnen, das ist ein sehr verwirrender, orientierungsloser zustand…Ich versuche dran zu bleiben, die ängste werden weniger, die verwirrung nicht. Ich frage mich wie lange ich meine eltern noch schone und hoffe irgendwann zugang zu all meinen gefühlen zu haben!?? Ich lerne viele menschen kennen, die ähnliche kindheiten haben, wie ein alkoholiker, der den anderen alkoholiker erkennt. Doch die meisten sind blind für ihr eigenes kindheitsleid….

Immer wieder stecke ich fest und weiß nicht was ich tun kann, so wie jetzt beim schreiben dieser zeilen. Ich habe ihnen vor einiger zeit schon einmal geschrieben und ich weiß gar nicht mehr genau was. In letzter zeit kann ich mir kaum noch dinge merken, es scheint mir als hätte mein gehirn aufnahmestopp, doch für was? es schaltet einfach ab. Schreiben hilft ab und zu beim klarer werden…. Ich weiß sie können nicht alle briefe beantworten, für mich ist wichtig, dass es jemand ließt, der ein wenig versteht…

Alles liebe , AS

AM: Es ist begreiflich, dass Sie Ihren inneren Kompas verloren haben und sich verwirren lassen MUSSTEN in Ihrer Kindheitssituation, aber Sie sind auf dem Weg, diesen Kompas zu finden, und haben ganz klare Hinweise dafür, zB wenn Sie sagen, dass Sie sich nach Ihren Gefühlen sehnen. Sie haben auch schon erlebt, dass es mit den Kindern leichter geht. Das große Hindernis ist die Angst vor der Strafe. Aber Sie werden diese Angst überwinden, weil Sie sich verstehen WOLLEN. Das Scheiben ist sicher hilfreich.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet