Kinderverehrung statt Ahnenkult

Kinderverehrung statt Ahnenkult
Tuesday 24 November 2009

Liebe Alice Miller!
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Mich hat der Brief von A.E. vom 18.11.2009 sehr berührt, weil er sehr dem Weg ähnelt, den ich gegangen bin.
Ich möchte dazu noch einige Gedanken ergänzen.
Auch ich habe am eigenen Leibe und an der eigenen Seele erlebt, dass alle Ihre Thesen in Ihrer ganzen Tragweite absolut wahr sind. Vielleicht erinnern Sie sich, ich habe Ihnen schon verschiedentlich geschrieben: Ich habe mein Symptom von selektivem Mutismus in über 20jähriger mühevoller Selbsttherapie, unterstützt durch einen Freundeskreis, überwunden, nachdem es mir gelungen ist, meine ehemals heiße Kinderliebe zu meinen missbrauchenden Eltern in berechtigten Hass umzuwandeln. Das war ein schwieriger Weg, mühselig und anstrengend. Nachdem ich mit meinen Eltern gebrochen hatte, sehnte ich mich oft nach ihnen zurück. Am schlimmsten allerdings waren die Schuldgefühle, weil ich mich meinen Eltern entzog. Da empfand ich es geradezu als Glücksfall, in allen Ihren Büchern zu entdecken, wie unangebracht Schuldgefühle gegenüber missbrauchenden Eltern sind. Das hat mir so den Rücken gestärkt und tut es bis heute!
Ich hasse heute meine Eltern für die Schandtaten, die sie an mir begangen haben, und dieser Hass – gepaart mit Wut und Zorn – hat mein Sprachsymptom zum Verschwinden gebracht und mir ein ganz neues glückliches Lebensgefühl beschert!
Ich staune allerdings immer wieder, wie schwer – geradezu unmöglich – es ist, meinen Heilungsweg anderen Menschen zu erklären.
Wenn man den Begriff „Heilung von Symptomen“ mit den Vokabeln Hass, Wut und Zorn in Zusammenhang bringt, stößt man allgemein auf ablehnendes Unverständnis und betretenes Schweigen. Diese Vokabeln sind im Verständnis von Menschen äußerst negativ besetzt. Heilung von Symptomen und Hass scheinen zwei Begriffe zu sein, die völlig inkompatibel sind. Hinzu kommt, dass Hass, Wut und Zorn Gefühle sind, die von allen Religionen geächtet und als vollkommen unerwünscht eingeordnet werden.
Sind Hass, Wut und Zorn schon für sich genommen unerwünschte Gefühle, so fällt die Person, die diese „schlimmen“ Gefühle gegen die eigenen Eltern richtet, aus jedem „normalen“ sozialen Gefüge heraus.
Ich habe bis zu meiner Frühpensionierung vor 3 Jahren in einer großen Behörde in Norddeutschland gearbeitet. Viele meiner KollegInnen litten an psychosomatischen Krankheitssymptomen wie Platzangst, chronischen Magenschmerzen, diffusen Ängsten u.ä. Sie probierten eine Therapie nach der anderen – autogenes Training, Yoga, Psychokuren, Medikamentenkuren. Mit derselben Hingabe widmeten sie sich der Pflege ihrer alten, gebrechlichen Eltern. Dass ein Zusammenhang zwischen den alten Eltern und den Krankheitssymptomen bestehen könnte – dieser Gedanke verbot sich geradezu. Im Gegenteil, wenn wir im KollegInnenkreis – etwa anlässlich eines Geburtstages – beisammen standen, drehten sich viele Gespräche um das Kümmern um die alten Eltern. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass geradezu ein Wettbewerb darum entbrannte, wer sich am besten um die alten Eltern kümmert.
Begegnete ich einer Kollegin um die fünfzig auf den Fluren des Amtes und fragte sie: „Wie geht’s Ihnen denn so?“ erhielt ich die Antwort: „Im Augenblick ganz schlecht, meine Mutter hatte vor 3 Tagen einen Schlaganfall … “ In den nächsten Minuten schilderte mir die Kollegin den Krankheitszustand ihrer Mutter bis ins Detail …
In dieser Atmosphäre des ehrwürdigen Umgangs mit den alten Eltern fühlte ich mich völlig verloren in meinem Bemühen, der wahren Geschichte meiner Kindheit auf den Grund zu gehen, die Ursachen für mein quälendes Sprachsymptom aufzuspüren, die verschütteten Hassgefühle auf meine Eltern frei zu schaufeln. Der Weg, den ich ging, war diametral entgegen gesetzt zum mainstream meiner KollegInnen und ließ mich oft einsamer fühlen als Robinson Crusoe auf seiner Insel.
Allerdings wusste ich immer, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Eine elementare und mächtige Bestätigung dieses Wissens habe ich in Ihren Büchern gefunden! Ein wahrer Segen für Menschen, die sich auf den Weg machen, dem Grauen ihrer Kindertage zu begegnen.
Oft habe ich mich gefragt, warum Ihre Thesen in vielen sozialen Gruppen – wie z.B. in meinem KollegInnenkreis – einen solchen Tabubruch darstellen. Die Verehrung von alten, gebrechlichen Eltern an der Schwelle des Todes wird ja noch getoppt durch Eltern, die diese Schwelle überschritten haben.
Was der Tod für das Ansehen eines Menschen bedeuten kann, konnte man unlängst am Beispiel von Michael Jackson erleben, der – in seinen letzten Lebensjahren eher geächtet – durch seinen Tod im Ansehen der Menschen wie Phönix aus der Asche gestiegen ist.
Wenn alte Menschen, die meistens auch Eltern sind – sterben, tritt der Ahnenkult in Kraft. Im Bewusstsein der Hinterbliebenen erreichen Tote allein durch die Tatsache, dass sie nicht mehr leben, einen Status der Überhöhung – Halbgott gleich. Ahnenverehrung (in der katholischen Kirche wird das bis zur Heiligenverehrung pervertiert) ist ja nicht nur wesentlicher Bestandteil der Weltreligionen, auch die Naturvölker wie Maoris, Indianer oder Aborigines verehren ihre Ahnen hingebungsvoll.
Ahnenverehrung – die ja Elternverehrung einschließt – ist also ein in Jahrtausenden gewachsenes bedeutsames Kulturgut in der Menschenwelt.
Wenn man dies bedenkt, so stellen Ihre Thesen auf psychologischem Gebiet eine ebenso revolutionäre Umwälzung dar wie auf astronomischem Gebiet die Entdeckung Galileis, dass die Erde keine Scheibe sondern eine Kugel sei.
Diese Überlegungen erleichtern es mir sehr, immer wieder entsetzt angeguckt zu werden, weil ich mit meinen alten Eltern gebrochen habe, weil ich einen gesunden Hass für sie empfinde, der mich von meinem lebensbehindernden Symptom hat heilen lassen – einen Hass, der nicht zerstört, sondern aufbaut, nämlich die auseinander gefallenen Teile meines Selbst zu einem harmonischen Ganzen hat zusammen wachsen lassen. Was für ein Glück!
Ich plädiere dafür, dass an die Stelle von Ahnenverehrung Kinderverehrung tritt, dass Kinder in ihrem Aufwachsen mit Respekt und Würde behandelt werden!
Auch wenn es nur langsam geht: Ich bin optimistisch, dass immer mehr Menschen entgegen dem mainstream ihren ganz persönlichen Weg zu ihrem verschütteten inneren Kind finden werden.
Dafür spricht der weltweite Erfolg Ihrer Bücher und die Lebendigkeit der Beiträge auf Ihrer website!
Liebe Alice Miller – es gibt inzwischen eine vielfältige, fast inflationär gewachsene Traumaliteratur, aber in keinem dieser Bücher habe ich eine derart bedingungslose Parteinahme für das ehemals verletzte, seines Selbst beraubte Kind gefunden wie bei Ihnen!
Danke für Ihr gewaltiges Lebenswerk!

(Wenn Sie meinen Brief veröffentlichen möchten, dann bitte mit dem Kürzel KIGA)

AM: Ich gratuliere Ihnen, dass Sie das schwere Symptom nach 20 Jahren verloren haben. Das verdanken Sie Ihrer unermüdlichen Arbeit und Klarheit. Wie gut, dass Sie sich nicht länger täuschen liessen. Aber so viele Menschen ziehen die Täuschung vor und leiden lebenslänglich, weil sie ihre Wahrheit so sehr fürchten.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet