Was tun?

Was tun?
Tuesday 09 May 2006

Ich bin 18 Jahre alt, mache gerade mein Abitur und interessiere mich sehr für Kunst und Psychologie. Besonders intensiv setze ich mich mit der Entwicklungspsychologie auseinander. Zentrales Interessenfeld: traumatische Erfahrungen in der Kindheit und ihre Auswirkungen auf die Entwicklung eines Menschen/ auf das Wesen eines Menschen. Tief traumatische Erfahrungen können sein: Kindesmisshandlung, Kindesmissbrauch, Vernachlässigung, Verlust einer wichtigen Bezugsperson usw. Ich habe in meinem Leben selbst einige dieser traumatischen Erfahrungen gemacht und bin bemüht herauszufinden, was diese Erfahrungen aus mir gemacht haben, aus mir machen und aus mir machen werden. Als ich ihre Bücher gelesen habe, gab es Passagen, in denen sie Dinge erklären, die Teil meiner Erfahrung bzw. meines Gefühlslebens sind, für die ich bisher jedoch keine Worte gefunden habe. Sie haben mir förmlich aus der Seele gesprochen. Daraufhin habe ich mich tiefgründiger mit ihren Ansichten beschäftigt und versucht im Ethikunterricht, in Form eines Vortrages, meinen Mitschülern ihre bzw. meine neu gewonnen Ansichten darzustellen (bezüglich „Schwarzer Pädagogik“, am Beispiel des Nationalsozialismus, Hitler …). Leider musste ich erkennen, dass junge Menschen scheinbar für solche, meiner Meinung nach wichtigen Themen, nicht offen sind und kein Interesse zeigen. Einzig und allein meine Lehrerin war aufmerksam und für gewisse Ansichten zu gewinnen. Im Nachhinein stellte ich fest, dass sie nunmehr Aspekte meines Vortrags in ihren Unterricht einbaut.
Ich teile Ihnen dies mit, da ich es für wichtig halte, dass die Aufklärung über destruktives Verhalten und daraus entstehende negative Folgen bezüglich der eigenen Person oder/ und der Umgebung, in Schulen Eingang finden sollte. Eine Vielzahl an Schülern fällt durch destruktives Verhalten auf (erhöhter Alkoholkonsum, Aggressivität, kaum Toleranz gegenüber anderen usw.). Erwachsene (Lehrer, Eltern) und die Schüler selbst sehen dieses destruktive Verhalten als etwas „normales“ an und damit sind ihre Überlegungen zu diesem Thema abgeschlossen. Es mag sein, dass erhöhter Alkoholkonsum heut zu Tage „normal“ ist, aber was die meisten nicht erkennen: „normal“ ist nicht gleich gut!
Zur Zeit des Nationalsozialismus war es auch „normal“ Juden zu verfolgen und zu töten, was sich im Nachhinein als eines der größten Verbrechen gegen die Menschheit herausgestellt hat!
Ich frage mich einfach, warum eine Vielzahl von Menschen nicht in der Lage ist Probleme zuerkenne, wenn sie entstehen?
Ich würde in meiner Zukunft gerne einer beruflichen Tätigkeit nachgehen, in der ich Menschen darauf Aufmerksam machen kann, dass sie ihre Augen aufmachen, hinschauen und auch darüber nachdenken sollten, was sie sehen. Denn das tun die wenigsten!
Vielleicht ist es ihnen gegeben mir Möglichkeiten zu nennen, um diesen Wunsch in die Tat umzusetzen?
Ich wünsche mir einfach einen Dialog, mit Menschen die sich mit den Aspekten ihrer Betrachtungen auseinandersetzen. Denn nur so, können diese wichtigen Erkenntnisse in Umlauf geraden.

Ich hoffe sehr, auf eine Reaktion auf meinen Brief.

J.J.

AM: Ihr Brief, Ihre Freiheit, zu sehen, und Ihr Bedürfnis, das dringend notwendige Wissen zu verbreiten, haben mich sehr gefreut, aber auch sehr verblüfft, weil eine solche klare Haltung selten anzutreffen ist. Was meistens diese Fähigkeiten lähmt, ist die Angst der einst geschlagenen Kinder vor ihren misshandelnden Eltern und die starke Bindung an diese. In “Evas Erwachen” versuchte ich das Entstehen dieser generellen emotionalen Blindheit mit der Bildung der Denkblockaden in den ersten Lebensjahren zu erklären. Aber Sie scheinen diesem Schicksal entkommen zu sein und wollen wirklich wissen, wie Ihre Kindheit Sie geprägt hat. Wodurch ist Ihnen diese gesunde Neugier erhalten geblieben? Hatten Sie starke helfende Zeugen, die es Ihnen ermöglicht haben, den Blick für Missbräuche offen zu halten?
SIe fragen, wo Sie Menschen finden können, mit denen ein Dialog über Ihre Erkenntnisse möglich wäre. Ich weiss es nicht, zweifle aber nicht daran, dass Sie diese Menschen finden werden, sobald Sie sich selbst und Ihre Geschichte gefunden haben. Dann lassen Sie sich nie mehr durch Lügen und wohlklingende Attrappen täuschen. Das Internet kann Ihnen vielleicht diese Suche erleichtern, auch das Forum ourchildhood.de oder int., wenn Sie englisch sprechen. Eventuell helfen Ihnen meine Artikel, insbesondere der letzte. Falls Sie Orte kennen, wo es sinnvoll wäre, meine Bücher zu verschenken, können Sie uns die Adressen mitteilen, wir werden sie an den Verlag weiterleiten, der meine überschüssigen Autorenexemplare für solche Zwecke bereit hält.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet