Taube Ohren

Taube Ohren
Tuesday 19 September 2006

Sehr geehrte Frau Miller,

vor acht Monten habe ich Herzschmerzen bei gleichzeitiger Atemnot unter Krämpfen in der Kiefermuskulatur bekommen. Diese Schmerzen sind nicht unter körperlichen Belastungen aufgetreten, sondern mehr aus der körperlichen Ruhe heraus. Meine Hausärztin war der Ansicht, dass die Schmerzen typisch für eine Koronare Herzerkrankung seien und überwies mich an einen Kardiologen. Auf Grund meines Alters (50), meiner erblich bedingten Risikofaktoren, des Beschwerdebildes und meiner Besorgtheit war ich auch sehr motiviert für weitere Untersuchungen.

Das Belastungs-EKG und die Sonographie des Herzmuskels zeigten dann zum Glück keine Auffälligkeiten. Dennoch verschrieb mir der Kardiologe Betablocker und empfahl mir umgehend eine Herzkatheter-Untersuchung im Krankenhaus vornehmen zu lassen. Auf meinen Einwand, dass eine zusätzliche derart invasive Diagnostik doch sehr belastend für mich sei und ich vermuten würde, dass die Hintergründe für die Schmerzen doch auch im seelischen Bereich liegen könnten, habe ich nur Spott und höhnische Bemerkungen geerntet.

Ich habe mich dann über alternative Untersuchungsverfahren (da ich durch längere Krankenhausaufenthalte als Kind invasive Untersuchungen als sehr belastend empfinde) zum Herzkatheter informiert und zwei Bildgebende Untersuchungen (Herz-CT und MRT) vornehmen lassen. Die Untersuchungen haben den Verdacht einer Koronaren Herzerkrankung nicht bestätigt. Ein weiteres Belastungs-EKG war ebenfalls unauffällig.

Meine Hausärztin zweifelt diese Untersuchungesergebnisse als nicht aussagekräftig genug an und prophezeit mir einen baldigen Herzinfarkt. Sie wurde autoritär und abweisend. Meinen wiederholt geäußerten Verdacht, dass es sich bei den Beschwerden um ein psychosomatisches Leiden handeln könnte, überhörte die Ärztin. Das alles hatte mich sehr verunsichert und meine Ängste gesteigert, so dass ich mir nicht mehr viel zugetraut habe.

Ich habe dann ohne ärztliche Überweisung psychotherapeutische Hilfe gesucht. Leider waren meine Versuche vergeblich. Wartezeiten bis zu zwei Jahre sind üblich. In dem einzigen Fall in dem es zu einem Gespräch gekommen ist, hat mir der Psychotherapeut gesagt, dass eine Suche nach Gründen für die Beschwerden sinnlos sei. Die könne man nicht finden und wenn doch, dann würde das auch nichts mehr ändern. Der Therapeut war ein Anhänger der Kognitiven Verhaltenstherapie. Mein Gefühl sagt mir gesagt, dass ich mir mit so einer Verhaltenstherapie, die mich auf einen „falsch Konditionierten“ Menschen reduziert, Gewalt antue.

Inzwischen lese ich Ihr Buch „Die Revolte des Körpers“ und ich habe wieder begonnen mich mit meiner Kindheit beschäftigen. Ich fühle mich in dem was ich vermutet habe durch Ihr Buch bestätigt. Die Beschwerden haben merklich nachgelassen; auch wenn ich jetzt oft sehr traurig bin. Ich achte mehr darauf, was mir Freude macht und was ich mir wirklich wünsche und als richtig für mein Leben empfinde. Ich weiß noch nicht, ob ich es schaffe und wieder Beschwerdefrei leben kann. Ich spüre eine gewisse Einsamkeit (die ich mein ganzes Leben lang unterschwellig gespürt habe), die wohl viel damit zu tun hat Wahrheiten an mich heran zu lassen, die meine immer noch versteckten Hoffnungen auf Respekt und Anerkennung durch meine Mutter betreffen und von denen ich dachte, ich hätte das lange hinter mir gelassen. Ich glaube aber, dass es so der bessere Weg für mich ist, als mich mit Medikamenten und einer mich an Dressur erinnernden Therapie von mir selber abzulenken und meine Gefühle zuzudecken. Was mir zusätzlich hilft, ist die ein Entspannungsverfahren (Progressive Muskelrelaxation).

Mir ist klar, dass es organische nachweisbare Befunde gibt, die dann auch organisch behandelt werden müssen und entsprechend Untersucht werden sollten. Was mich jedoch beunruhigt an unserem Gesundheitswesen, ist die Blindheit von Ärzten gegenüber seelischen Wechselwirkungen und Ursachen. Keiner der von mir aufgesuchten drei Ärzte hat auch nur nachgefragt, wie ich denn darauf kommen würde, dass meine Beschwerden seelisch bedingt sein könnten. Offenbar sind viele Ärzte und auch Psychotherapeuten hilflos und überfordert. Vielleicht ist es so, wie Sie auch verstanden habe, dass diese Ärzte und Therapeuten solche Patienten wie mich nicht aushalten können. Das würde sie dann selber konfrontieren mit dem, was sie verdrängt haben. Vielleicht ist es aber auch noch so, dass es viel zu viel Mühe macht im Praxisalltag einfach auch mal zuzuhören und neugierig zu bleiben, wenn sich eine vorgefaßte Meinung als nicht zutreffend herausstellt.

Selbst anerkannte, schulmedizinische Studien gehen davon aus, dass bis zu 40% der als Herzleiden behandelten Schmerzen unerkannte „funktionelle Störungen“ (Erkrankungen ohne einen organisch nachweisbaren Befund) sind. Eigentlich müßte es doch so sein, dass Mediziner und Psychotherapeuten diese Studien in ihrer Ausbildung zur Kenntnis nehmen und auch so ausgebildet sind, dass sie diese Leiden richtig diagnostizieren und auch entsprechende Therapiemöglichkeiten anbieten können.

Der Schaden für die Patienten ist doch unabsehbar, wenn nicht indizierte Untersuchungen und Behandlungen vorgenommen werden. Auch wird ja gerne mit den Kosten in der ärztlichen Versorgung argumentiert: ich glaube, dass die Kosten für lebenslange medizinische Eingriffe und Untersuchungen die Kosten einer einmaligen Psychotherapie, die das frühe Leid eines Menschen nicht ausklammert, weit übersteigen.

Ihnen wird in einigen Buchkritiken vorgeworfen, Sie würden es sich zu einfach machen, wenn sie die Ursachen des für viele Menschen unerträglichen und oft unerklärlichen Leides in der Lieblosigkeit der Eltern und der verlorenen Fähigkeit das darin liegende Unrecht zu erkennen suchen. Ich meine, genau das ist nicht einfach oder verallgemeinernd. Es wird doch gerade sehr kompliziert, wenn das was selbstverständlich sein sollte für Kinder diesen vorenthalten wird.

Ich bedanke mich bei Ihnen für Ihre Arbeit und hoffe, dass viele Menschen ihre Bücher lesen, sich trauen Ihren Erkenntnissen zu folgen und auch Konsequenzen daraus für sich und die Beziehungen zu ihren Kindern ziehen.

Herzliche Grüße, C. W. E.

AM: Vielen Dank für Ihren Bericht. Was Sie erzählen, müsste völlig absurd klingen in den Ohren eines normalen Menschen. Aber leider ist es nicht so. Es ist ja die gängige Praxis, dass Ärzte (heute mehr noch als etwa vor 20 Jahren) offenbar eine panische Angst haben, wenn ihre Patienten sie nach den seelischen Zusammenhängen von ihrem Leiden fragen. Vielleicht verdanken wir diese Blindheit der Entwicklung von neuen pharmazeutischen Mitteln und der Werbung dafür. Es kommen ja täglich mehrere dutzend Werbungen für Antidepressiva, Viagra und Ähnliches in unsere E-Mail Post. Die Verdummung hält nicht an. Ich gratuliere Ihnen, dass Sie dies gemerkt haben; die Trauer wird Sie nicht umbringen, aber deren Verleugnung womöglich doch eines Tages. Ihr Körper wird Ihnen danken, wenn Sie sich entscheiden, zu Ihrer Wahrheit zu stehen.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet