Frühe Prägungen

Frühe Prägungen
Monday 17 November 2008

Liebe Frau Miller,

ich verfolge schon seit einiger Zeit die Veröffentlichungen auf Ihrer Seite
und kenne auch intensiv Ihre Bücher. Bisher habe ich mich nicht getraut, Ihnen
zu schreiben – aber ich erkenne doch in vielen Lebensberichten, die ich bei
Ihnen lese, Eigenes wieder.
Ich möchte Sie fragen, wie stark alte Verhaltensmuster gegenüber den Eltern
das gegenwärtige Leben bestimmen können.
Meine Eltern, besonders meine Mutter, haben sich immer nur zweifelhaft oder
negativ über meine Gefühle geäußert und über die Menschen, die ich als
Jugendlicher kennenlernte: “Paß bloß auf, der/die nutzen dich bloß aus.
Die sind so eigenartig, seltsam, komisch… Von denen hast du nichts Gutes zu
erwarten!” Sie haben mir sogar mehrfach gesagt, sie wollten nicht wissen,
wenn ich einen Partner hätte; es würde sie ja freuen, wenn ich ich nicht
allein wäre, aber ich solle sie damit nicht behelligen.
Ich habe mich auch immer zurückgehalten bei ihnen und auch bei anderen
Menschen, meine wahren Gefühle zu zeigen. Ich vergehe vor Peinlichkeit, wenn
ich Gefühle zeigen soll, dürfte, könnte.
Ein paar Mal habe ich mich (natürlich unglücklich) verliebt und gearbeitet
wie ein Sklave, um dem geliebten Menschen zu gefallen, habe ihm stets versucht,
alle Wünsche von den Lippen abzulesen und immer gehofft, die Liebe (die ich nie
gestand, weil ich mich ihrer so schämte) möge doch einmal erwidert werden. Von
ANfang an war mir klar: ich werde abgelehnt! Aber ich konnte wenigstens eine Art
Hoffnung erzeugen durch das eben beschriebene Verhalten. MOnate lang lebte ich
dann in einem extremen Spannungsverhältnis von Hoffnung und Verzweifelung, was
jedesmal meinen Beruf, meine Beziehungen zu Freunden und Beannten extrem
belastete.
Natürlich wurde nie etwas daraus. Dann habe ich mich grauenhaft geschämt,
mir vorgeworfen, ich sei nicht genügend, meine Liebe,mein Wesen, mein Körper,
meine Intelligenz etc. reichten nicht aus, deshalb würde ich nicht wieder
geliebt.
Der letzte gescheiterte Versuch ist jetzt 10 Jahre her. – Ich habe immer die
KOntakte total abgebrochen, weil ich die Nähe dieser Menschen dann nicht mehr
ertragen konnte. Seit diesem letzten gescheiterten Liebesversuch geht es mir
seelisch immer schlechter – drei Therapien, keine Änderung. –
Per Zufall habe ich dieser Tage erfahren, wo und mit wem dieser letzte Mensch
inzwischen lebt. Wie ein Aberwitz durchfuhr es mich – vielleicht jetzt,
vielleicht kann ich jetzt doch noch zu ihm Kontakt aufnehmen und vielleicht
klappt es jetzt. Ich spüre eine gräßliche Welle der Irrationalität: ich
stelle schon Pläne auf, was ich tun müßte, abnehmen, Sport treiben, mich
beruflich mehr anstrengen, um besser zu verdienen etc. etc…. Eine unendliche
Sehnsucht ergriff mich dabei und gleichzeitig die Trauer, daß es nicht möglich
sei, daß es für mich nie möglich sei. einen Menschen zu finden, der mich mag.
Man akzeptiert mich, achtet mich, aber man mag mich nicht.
Und dann fällt es mir blitzartig ein, daß ich mich ja bei meinen Eltern
ebenso angestrengt habe. Die Menschen, in die ich verliebt war, bekamen nie
etwas von meinen Gefühlen mit, ich schämte mich zu sehr für meine Gefühle;
aber ich überschlug mich, zu ihnen nett zu sein, sie zu verwöhnen usw. – Diese
Parallelen machen mich völlig fertig – zumal meine Mutter damals starb als ich
mich zum letzten Mal verliebt hatte. Ich habe seitdem große Schuldgefühle
wegen ihres plötzlichen Todes.
Ihr kann ich es nicht mehr Recht machen – und dennoch versuche ich es; versuche
auch bei anderen Menschen, die gleiche Haltung einzunehmen wie bei ihr. Das
nahezu verrückte Ansinnen, es doch noch einmal zu versuchen nach zehn Jahren
ist ja schon fast krankhaft.
Kann es sein, daß ich dieses alte Muster : wir wollen nichts wissen von
deinen Gefühlen und deinen Lebenspartnern (so du sie überhaupt hast), auf die
Menschen übertragen habe, die mich anzogen?! Ja, daß ich mich von ihnen
angezogen fühle, eben weil sie mich ablehnen? – So wie ich es gelernt habe?!
Ich fühle mich jedenfalls immer abscheulich mangelhaft und häßlich, nie Wert
genug von anderen geliebt zu werden, hebe die anderen in den Himmel, trage sie
auf Händen – und sie halten mich dann auch für einen
liebens”würdigen” aber nie liebens”werten” Mann. Und sie
reagieren mit Unverständnis, wenn ich meine Liebe nach quälender Zeit
eingestehe, um sie danach nie mehr zu sehen.

Sitzen die Elten wirklich so tief? Können sie Selbsthaß und Minderwertigkeit
so tief einpflanzen, daß es nicht möglich ist, einen Menschen zu finden? Und
wieso bestimmen die Muster dieses einmal gelernten Verhaltens noch immer mein
Leben, obwohl ich sie doch meine, zu kennen?
Ist es so, daß ich mit dem absurden Gedanken spiele, ich könne, zehn Jahre
nach jener gescheiterten Liebe (oder was immer es auch war) noch einmal einen
Versuch starten, weil ich mein Leben lang immer und immer wieder versucht habe,
meine Eltern von meinem Wert zu überzeugen?
War ich gar nicht frei für einen anderen Menschen, weil ich immer nur die
Situation bei meinen Eltern erneut durchspielen mußte?
Inzwischen hat mich das so allein gemacht, wie sie mir prophezeihten, zu
werden.

Wie sehen Sie das?! – Herzlichen Dank für Ihre Seite.

AM: Ihr Brief beantwortet bereits Ihre Frage. Es ist gut, dass Sie die Muster erkennen, aber offenbar fühlen Sie noch keine Revolte, keinen Zorn. Versuchen Sie meine letzten Bücher zu lesen, vielleicht helfen sie Ihnen, diese Auflehnung und die verdrängten Emotionen zu spüren.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet