Katastrophale wissende Menschenrechtsverletzung

Katastrophale wissende Menschenrechtsverletzung
Saturday 08 September 2007

Persönliche Gedanken zu meiner Kindheit

Liebe Frau Miller,

auch ich bin ein begeisterter Leser ihrer Bücher und Seiten, auf ihr neues Werk bin ich schon sehr gespannt. In zwei Wochen fahre ich auf eine Traumatherapeutische Reha, ich brauche Ruhe, ich muß das Hamsterrad des Alltagslebens bremsen, ich möchte trauern.
Trauern um eine ausgefallene Kindheit. Ich möchte aus einem Loch herauskommen, in das ich gefallen bin. Ich möchte Worte für Unfassbares finden, ich fühle etwas, wo ich nicht weiß, was es ist. Vollkommen normal für seelisch gefolterte Menschen, denen das alles von der Schutzperson Mutter angetan wird und man noch zu jung ist, um sich wortreich zu erklären (was auch wohlk nichts gebracht hätte).
Ich suche nach der Antwort auf die Frage, warum Eltern so sind. Die Kinder sind doch schon klein und müssen doch nicht noch kleiner gemacht werden. Das Verhältnis verrät doch rein äußerlich schon, welche Hierarchi vorliegt. WARUM, WARUM NUR?

Die Geburt eines Kindes ist ein ergreifender Moment. Ein Kind ist in der Regel das phantastischste Ergebnis von praktizierter Liebe zwischen zwei Menschen. Die ersten Momente, die ich als Mutter erleben durfte, gingen unter die Haut. Habe ich bis dahin mein Kind in mir wahrgenommen, seine kleinen Tritte und Drehungen in meinem Bauch gespürt, so sind die ersten äußerlich fühlbaren Bewegungen meines Kindes ein unvergessliches Erlebnis für mich. Die zarten kleinen Fingerchen nestelten über meine Bauchdecke, die ersten Laute sind noch so zaghaft und hilflos gewesen.

Mit meinen ersten Berührungen, mit dem ersten Stillen gebe ich meinem kleinen Kind nicht nur Nahrung, sondern auch Schutz und Nähe. Er soll es gut haben, ich möchte ihn froh und glücklich werden lassen, ihm beistehen, wenn er mehr Zuwendung braucht an Tagen, in denen er Kummer oder Schmerzen hat, ganz gleich, ob dahinter eine Verletzung, eine körperliche Krankheit oder seelisches Leid stecken.

Das hier Geschilderte ist in der Tierwelt so und auch wir Menschen gehen im Idealfall mit unserer Rolle als Eltern so um.

Das spürt ein kleines Wesen, wenn es auf die Welt kommt. Ob ein Kind angenommen wird, oder ob es notgedrungen versorgt wird, oder ob es emotional vernachlässigt wird, das fühlt ein Kind. Noch bevor es etwas ausdrücken kann, bemerkt es, ob seine erste Anlaufstelle, die Mutter, zu ihm eine Verbindung aufgenommen hat oder nicht. Es ist nicht ausreichend, Nahrung verabreicht zu bekommen, in ein Bett gelegt zu werden und sonst allenthalben zu Vorführzwecken wie ein Spielzeug als Erfüllungsgehilfin zu fungieren.

Elementare und wichtigste Grundbedürfnisse nach Nähe und Geborgenheit, nach Zärtlichkeit, nach Empathie, nach Zugehörigkeit, nach Schutz und Beistand werden so vernachlässigt. Unter diesen Bedingungen kann ein kleiner Mensch nicht zu einer gesunden Persönlichkeit heranwachsen. Das, was sich in den ersten Lebensjahren ausprägt, das Selbst, kann so absolut nicht entstehen. Es ist ein angepasstes, unwirkliches Selbst, das sich durch den schon frühzeitig erlebten inneren Stress verzerrt und ungesund heranbildet.

Ich habe das wie eine Art Konditionierung auf „Du bist schlecht.“, „Du nervst“, „Du bist Ballast“, „Du störst“ emfahren, jedenfalls empfand ich das so. Konditionieren heißt ja auch, dass dieses Selbst mit Brachialgewalt erzeugt wird und sich eine Grundüberzeugung in mir herausbilden sollte, die keinerlei andere Sichtweisen mehr zulässt. Schließlich münden diese Konditionierungen in Schuldgefühle, denn mit diesem Nerv- und Störpotential intus kann man ja auch seine gesamte Daseinsberechtigung infrage stellen.

Wenn ich nun meine eigene Mutter so enttäuscht habe, wenn sie rein gar nichts mit mir anfangen kann, dann ist es doch naheliegend, sich nach einer anderen Mutter umzusehen. Im Kindergarten oder in der Schule erlebte ich ja, wie andere Familien funktionieren, ich hatte solche unerhörte Sehnsucht danach. Wie aber werde ich in dieser verzweifelten Suche nach einem emotionalen Zuhause erhört, wer nimmt mich zu sich? Wie stelle ich das eigentlich an? Ich kann doch nicht in meiner kindlichen Naivität irgendwo vor der Tür stehen und um eine Bleibe und eine neue Mutter bitten. Die Väter, die in problem- und konfliktbeladenen Familien schnell mal durch häufige Partnerwechsel ein- und ausziehen stehen auch nicht als Schutzpatron zur Verfügung.

Was ist bis hierhin beständig gewesen? Es waren Unnahbarkeit und Unerreichbarkeit meiner Mutter, es waren Schläge, harte und lieblose Berührungen, selten aber auch mal Liebkosungen. Hat sie mich denn getröstet, wenn es nötig war? Anfangs vielleicht, aber dann gab es schon gleich die Moralpredigt, dass ich besser aufpassen muss. Hab ich mich jemals in ihre Arme gelegt und mit ihr gekuschelt, dabei meine ich nicht die Posen für Fotoshootings, ich meine ehrliche und vorbehaltlose Anlehnung und Nähe; habe ich bei ihr Entspannung gesucht und auch gefunden? Nein. Ich konnte meiner Mutter absolut nicht nahe sein, denn ich hatte Angst vor ihr. Sie war unberechenbar und hartherzig.

Wie aber erhält man Trost und Wärme?
Indem es dafür einen Anlass gibt. Also müsste ich durch irgendwas eine Verletzung erleiden und davontragen, damit die neue Mutter darauf anspringt und mich tröstet. Das gaben meine kindliche Naivität und meine Verzweiflung als Lösungsversuch her.

Wie kann ich die knisternden und schwer auszuhaltenden Spannungszustände in meiner Familie lösen?
Ich kann mich als Prügelmedium anbieten. Ich stelle irgendwas an und werde zur Strafe geschlagen. Schläge physischer Art gehen vorüber und das, was ich danach zu verarbeiten habe, ist auf keinen Fall so unerträglich spannungsgeladen. Ich habe also die Negativenergien aus mir herausprügeln lassen. Sicher ist das eine Kurzfristlösung, aber sie hat für den Moment etwas wunderbares, nach diesem Hype ist dann wieder innere Ruhe und Ausgeglichenheit vorhanden, alles steuert auf Versöhnung zu. Fast so erlebe ich es heute, wenn ich eine lange Distanz auf meinem Sportgerät laufe.

Eine weitere Idee ist es, sich vor seinen Eltern und Anderen selbst zu erniedrigen, der Lächerlichkeit preiszugeben. Dazu muss ich aber wissen, dass über meinen bewussten gemachten bzw. gesagten Blödsinn auch gelacht wird, denn ich will mich zum Clown machen und auslachen lassen, das ist ja bei dieser Strategie das Ziel. Und wieder geht die Rechnung auf: aus dieser Selbstdemütigung kommen Lachsalven (zugegeben, sie sind auf makabre und bizarre Art entstanden) heraus, die ebenfalls zur Spannungsreduktion in der Familie beitragen. Wenigstens für einige Momente hatte es den Anschein von Harmonie.

Diese Selbsterniedrigung beinhaltet aber auch eine grausige Seite:
Wer sich mit seinem Selbst erniedrigt, bringt sich bewusst in eine unterlegene Position. Ich habe also von gelernt von meiner Mutter gelernt, sie muss es so gewollt haben. Um mich dorthin zu bekommen, hat sie mich zuvor massiv beeinflusst und gesteuert. Ich kann es auch noch drastischer sagen: aufstrebende gesunde Entwicklungen meiner Persönlichkeit hat sie einfach so gebrochen. Sie hat es durch die verschiedensten subtilen Praktiken geschafft: Anschreien, Anschweigen, Liebesentzug, Entzug der ohnehin schon sehr spärlich ausgeprägten körperlichen Berührungen, Ignoranz meiner Person, Beschämung auch in der Öffentlichkeit (Schläge auf der Straße vor fremden Leuten in der Stadt) usw. Diese Liste könnte ich weiter fortsetzen.
Im Gegenteil: Körperlichkeit und Sinnlichkeit hatte nach dieser „Schule“ mit Gewalt und Schmerz zu tun, das war mir bekannt und sicher.

Aus diesen Überlebensstrategien entwickelt sich nun ein Verhaltensmuster, das auch als heranwachsender Mensch beibehalten habe. Das zu spüren hat mich jede Menge Scham gekostet, und das ist auch heute noch so. Bis ich erst jetzt von meiner Therapeutin verstanden habe, dass diese Entwicklung folgrerichtig ist, bin ich von einer dunklen und unheimlichen Seite in mir ausgegangen, die mich zutiefst verunsichert hat.

Ich bin ja zutiefst davon überzeugt, so wurde es mir ja vermittelt, dass ich auf dieser Welt keine sichere Daseinsberechtigung habe, ich weiß nur zu gut, dass ich Menschen nerve und die Dinge fast immer falsch mache.
Ich musste mir also wieder etwas überlegen, wie ich es als Kind gemacht habe. Ich werde mir freundlich zugewandte Menschen schnappen und mich bis an den Rand der Selbstaufgabe um sie kümmern. Ich hole sie vor der Arbeit von zu hause ab, fahre sie am Abend nach Hause, erledige Wege für sie, um sie gnädig zu stimmen. Immer mehr mutiere ich zu einer Klette, die sich anhaftet. Ganz weit hinten ist meine Überlebensstrategie aktiviert.

Dass die Muttersuche aber nicht mehr nötig ist, das will mir nicht in den Sinn. Wer sich aber anklettet, der muss unbedingt damit rechnen, dass er abgeworfen wird. Dazu braucht man sich nur vorzustellen, wie man eine Klette aus der Natur von seinen Sachen entfernt – genau so. Dass dieses Abschütteln mit einer Menge Schmerzen verbunden ist, das spüre ich. Und doch erfasse ich nicht, dass ich damit eher die Gedanken des kleinen Mädchens auf Muttersuche reinszeniere. Wie auch? Ich müsste hierfür zunächst mit mir selbst Frieden schließen und die tief eingebrannten Muster der Wertlosigkeit aus meinen grauen Zellen verdammen.

Die suche nach der Mutter, wird definitiv nicht zum Erfolg führen. Auch wenn ich mir noch so oft überlege, vor den Augen solcher „Kanditaninnen“ zu leiden. Das einzigste und niederschmetterndste Resultat dieser Art der Bewältigung ist, dass ich abermals zurückgewiesen und belächelt werde. Nicht die erhoffte Zuwendung steht am Ende, sondern der harte Fausthieb in meine Seele, den ich obendrein herbeigeführt und ermöglicht habe.

Meine Mutter hatte mich nicht lieb, sie wird ihre Gründe gehabt haben. Aber ich muss lernen, aus ihrem mächtigen Schatten herauszutreten und mich nicht mit den abstrusen Selbstdemütigungsphantsien um Ersatz zu kümmern. Heute habe ich mehr, als sie erreicht im Leben. Sie ist dem Alkohol zum Opfer gefallen. Rational bin ich darauf auch stolz, aber dass ich das emotional auch spüre, das will und werde ich noch lernen.

Zuvor muß ich die unablässige Frage nach dem Warum beantwortet bekommen. Waren es Sadisten, waren sie psychisch krank? Was bringt Menschen dazu, einen anderen Menschen zu quälen? Wie kam es dazu, dass sie einerseits die Zeitschrift „Elternhaus und Schule“ jahrgangsweise lasen und sich doch als Eltern derart danebenbenahmen. Hat es in ihnen nie eine Instanz gegeben, die Sie um Einhalt gebeten hatte, laut und deutlich „STOP“ sagte.

Ich merke, dass ich außerstande bin, meine Gefühle in Worte zu fassen. Ich kann das alles irgendwie be- oder umschreiben, aber ich kann nicht sagen, ob ich traurig oder beschämt, wütend oder ärgerlich bin. Ich bin emotional irgendwie leer und noch immer fehlen mir die Worte. Das macht die Bewältigung dieses Traumas auch so unendlich schwer. Würde ich ein bestimmtes Gefühl haben, so könnte ich auf mich wirksam eingehen und versuchen, gegenzusteuern. Ich kann aber, wenn ich nicht weiß, was ich fühle, auch keine Handlungskompetenzen finden; z.B. wäre ich niedergeschlagen, könnte ich aus früheren Phasen der Niedergeschlagenheit ins Schwimmbad gehen oder eine heiße Tasse Kakao trinken. Wo aber eine Wüste ist, da kann ich es mir (noch) nicht gemütlich machen.

Wüßte ich doch bloß mehr darüber, was Eltern zu Sadisten werden lies, haben sie denn nie nachgedacht, sehen sie nicht die verzweiflung, die Leere, die Wut in den Augen ihrer kindlichen Opfers? Ist denn das alles zu viel verlang?
Bitte versuchen Sie es mir zu erklären, liebe Frau Miller.

Herzlichste Grüße und lieben Dank für alles, was ich bislang von Ihnen lesen durfte, S. R.

AM: Wenn ich es Ihnen nicht in meinen Büchern und Artikeln erklärt habe, dann tut es mir leid. Aber besser als dort kann ich es nicht tun.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet