Die Ablösung beginnt langsam. Endlich!

Die Ablösung beginnt langsam. Endlich!
Friday 14 December 2007

Liebe Frau Miller,

vor zwei Jahren trennte ich mich nach einem großen Vertrauensbruch von meinem langjährigen Lebensgefährten, im finalen Streit verlor ich in einem Wutanfall völlig die Kontrolle über mich. Das machte mir Angst. Difuse Angst, dass ich anderen Schmerzen und Leid zufügen könnte, vor allem weil ich als Kind unter den ständigen Wut- und Gewaltattaken meines Vaters und der seelischen Grausamkeit meiner Mutter extrem gelitten hatte. Ich wollte nie wieder die Kontrolle über meine Emotionen so verlieren und andere Menschen unter einer solchen seelischen Grausamkeit leiden lassen.
Ich suchte einen Therapeuten auf, an den ich verschiedene Fragen hatte, u.a. wollte ich wissen, warum ich immer jüngere Partner hatte, zum Teil erheblich jüngere, warum ich mich gerne für andere aufrieb und was ich an meiner WUT ändern könnte. Nach kurzer Zeit bat mich der Therapeut, aufzuschreiben, was ich an meiner Kindheit schön und was schlecht fand. Es war eine sehr schwierige Woche, das aufzuschreiben, verbunden mit viel Weinen und Schmerzen. Aber als ich dann fertig war, wollte ich den Tabellenspalten Namen geben. Ich nannte sie “Das war gut” und “Das war weniger gut”. Ich war nicht bereit einzugestehen, dass meine Kindheit absolut nicht optimal gelaufen war und ich daran weniger Schuld war, als mich meine Eltern glauben machen wollten seit nun 42 Jahren. In der nächsten Sitzung sprach der Therapeut mit mir darüber, dass es gut wäre, den Kontakt zu meiner Familie einzuschränken bzw. abzubrechen. Ich bekam wieder einen Wutanfall: Das könnte doch nicht die Lösung sein, das wären doch die einzigen Menschen, die ich noch hätte – von den Freunden und Bekannten mal ganz abgesehen. Und dann hätte man doch seinen Eltern alles zu verdanken, oder? Das vierte Gebot sitzt tief.
Ich habe also damals das Ganze nicht bewältigt, Therapie abgebrochen und die Spielchen weiter mit gespielt. Trotzdem war die Situation für mich belastend, meine Eltern setzten mich unter Druck, ich hatte ein schlechtes Gewissen und ordnete mich ihrem Willen unter. Dann lernte ich meinen zukünftigen Mann kennen und hatte mich diesmal bewusst entgegen meinem bisherigen “Beuteschema” für einen Mann entschieden, der nicht dem nahe kam, wie mein Vater als junger Mann gewesen sein könnte. Und ich bekam einen Menschen, der bereit war, mich so anzunehmen, wie ich bin, der bereit war, sich anzuhören, was ich unterschwellig empfand und er wurde – ohne dass ich den Begriff “wissender Zeuge” schon kannte, zu einem Mitwisser. Ich hatte dabei zunächst ein schlechtes Gefühl, weil ich “Böses” über meine Eltern zu berichten hatte. Und dann machte ich die Erfahrung, dass mir jemand glaubt. Das war für mich völlig neu, denn bis dahin konnte ich mich nur an andere Mitwisser (Oma, Schulkameraden) wenden, die einzelne Facetten des Gesamtbildes, aber auch nicht das schlimme Ganze kannten. Und selbst bei denen versicherte ich mich ständig rück, ob sie mir das auch glaubten. Meine Eltern hatten mich immer als notorische Lügnerin und Intrigantin dargestellt und irgendwann habe ich wohl verinnerlicht, dass mir sowieso keiner glaubt.
Langsam beginne ich, die Bruchstücke zusammenzusetzen: Wir gehen davon aus, was ich mache, wie ich in bestimmten Situationen mich verhalte und dann suche ich danach, wann ich das in meiner Kindheit schon einmal auch so gemacht habe. Zum Beispiel kann ich in Streitsituationen mit meinem Partner, die mir weh tun, nicht “transkribieren”, dass es nicht um das Ganze, den völligen Verlust geht: Meine Eltern hatten mir immer angedroht, dass ich, wenn ich nicht parriere, ins Heim komme. Und so endeten Streits in der Vergangenheit immer mit der von mir ausgehenden Grausamkeit “dann können wir Schluss machen”. Mein Partner konnte mir auf sehr einfühlsame Weise nahe bringen, dass ich ihn damit sehr verletze und ich entwickelte Mitgefühl für ihn.
Wenn ich geschlagen oder getreten wurde, hatte ich selbst daran schuld und ich sollte ja nicht auf die Idee kommen, auch noch zu heulen. Ich verschwand dann also in meinem Zimmer, um mich abzulenken, las ich in Büchern und zog mich in eine Scheinwelt zurück, in der ich eine Prinzessin war. Ich spielte eigentlich nie gerne mit Puppen oder so, aber Prinzessin zu spielen, oder ein Star zu sein, das gefiel mir in meinen “Alleinspielen” sehr. Ich verkleidete mich auch entsprechend aus dem Fundus meiner Großmutter, bei der ich das durfte, oder aus dem Schrank meiner Mutter, wofür ich dann wieder Schläge bekam.
Schwer verprügelt wurde ich aus den verschiedensten Gründen: Weil ich das Essen meiner Mutter nicht essen konnte (im Kindergarten ging das Essen ohne Probs, ich esse noch heute für mein Leben gern typisches Kantinenessen), mit dem Kochlöffel. Einmal beschwerte meine Mutter sich noch darüber, dass ihr eine Ader in der Hand platzte, weil sie beim Schlagen zu hart zugehauen hatte – auch daran war ich schuld. Ich entwickelt die verschiedensten Essstörungen: Ich traue mir weder zu, jemandem zu sagen, dass ich sein Essen nicht essen möchte, dass ich genug habe, dass ich keinen Nachschlag möchte. Ich esse immer den Teller leer, grundsätzlich kaue ich zuwenig und schlinge das Essen hinunter, um auch ja als Erste fertig zu sein… Früher hagelte es oft Schläge, weil ich das Essen am Tisch nicht runter bekommen habe und Würgreiz hatte, oft habe ich mich so geekelt, dass ich mich im Anschluss übergeben musste. Dafür bekam ich dann auch wieder Schläge. Manchmal wurde ich in mein Zimmer gesperrt, damit ich keine Gelegenheit hatte, mich zu übergeben. Noch heute wird es mir bei bestimmten Gerüchen einfach übel.
Es sind noch viele unbearbeitete Baustellen, die ich einfach ausblende. Ich hatte immer das Gefühl, dem Anspruch meiner Eltern nicht zu genügen, ein böses, schlechtes Kind zu sein, dass die Bosheiten mit Absicht begangen, nachgerade geplant hat. Ich hatte absolut keine Zukunftszuversicht, ob jemals ein Mensch, mit dem ich gerne eine Familie hätte, ‘Ja’ zu mir sagen würde, da es sich ja eigentlich nicht lohnt, mit mir zu leben. Ich absolut nichts Liebenswertes an mir hätte.

Ich musste mich schon früh um meine Schwester kümmern, sie aus dem Kindergarten abholen und mich mit ihr beschäftigen. Meine Schwester hat oft behauptet, ich würde mich nicht ordentlich um sie kümmern, was für meine Eltern aber kein Grund war, die Sorge um meine Schwester selbst zu betreiben…. Das Thema kann ich noch nicht näher bearbeiten, es geht mir einfach zu nahe. Ich lief zweimal von zuhause weg, mein Vater machte sich darüber lustig, wie ich mir hätte einbilden können, sie würden mich nicht finden. Ich hatte das Gefühl, in einem Gefängnis zu leben, dessen einzige Tür sich in das kinderheim öffnete. Heutzutage rate ich manchmal Kindern in meiner Schulklasse, die sich mir öffnen, zu überlegen, ob es in einem solchen Heim nicht einfacher für sie wäre.

Mein Partner lebt nun gemeinsam mit mir in unserem Haus. Wir versuchen anzugehen, dass ich es schaffe, mich von meiner Herkunftsfamilie abzulösen, da eine Emanzipation auf Augenhöhe absolut unmöglich ist. Mein Vater will immer noch die Rolle des Familienvorstandes auch über meine Familie, er will mir vorschreiben, wie bestimmte Sachen im Haus zu machen sind. Er hat sich förmlich aufgedrängt, bei Fliesenarbeiten mitzuhelfen, weil er das Gefühl, gebraucht zu werden braucht und dann unbedingt Dank und Anerkennung einfordert. Sie haben nicht geholfen, weil sie es gern machen und mir wirklich helfen wollten. Sondern, weil sie Anerkennung wollten und mir zeigen wollten, dass ich sowieso nicht dazu in der Lage (sprich zu blöd dazu) bin, so haben sie es auch im Antwortschreiben auf meinen Brief geschrieben.
Ich habe eine Woche vor Weihnachten Geburtstag. In der Vergangenheit war es immer wieder so, dass ich meine Schwester auf Wunsch meiner Eltern einladen musste und ich ihnen letztendlich den Gefallen getan habe, weil ich meine Ruhe mit denen wollte. Wir sind kaum zu meinen Eltern gefahren, ich habe sie nicht angerufen, eigentlich haben wir uns wirklich nur noch zu den Geburtstagen meiner Kinder gesehen. Aber an Weihnachten wollte ich nicht mehr. Meine “Schwiegereltern” und die Geschwister meines Partners waren eingeladen, zusätzlich meine drei Söhne und deren Freundinnen. Und ich hatte zum ersten Mal die Kraft, “Nein” zu sagen. Meine Eltern erpressten mich und es kam zu einer gleichen unschönen Situation nach Ostern dieses Jahr, als sie meinen Sohn erpressten, dass sie nicht kämen, wenn … Und wir sagten beide wieder “Nein” dazu, was endlich zu einer Sendepause führte. In der Folge schrieb ich Ihnen Anfang Dezember einen Brief, der für mich sehr zielführend und orientiert auf ein Ende der Beziehung zu meinen Eltern war. Diesen hier:
“Wie stellt man den Frieden wieder her
Hallo, Ihr beiden,
es mag sein, dass Euch nicht gefällt, was ich nun aufschreibe. Es mag sein, dass Ihr es aus der Perspektive so nicht seht, aber für mich (und uns alles als Familie zum Teil auch) ist ein Maß erreicht gewesen, dass unerträglich ist…
Meine Schwester nimmt keinen Anteil an meinem Leben ebenso wie ich an ihrem nicht. Sie ist mir fremd. Trotzdem habe ich sie Euch zuliebe regelmäßig eingeladen. Dabei ist die Art, wie das passierte, in zunehmendem Maße fordernd und erpressend gewesen: „Wenn sie nicht kommt, kommen wir auch nicht“.
Dabei muss man bedenken, dass ich mich nur an seltene Gelegenheiten erinnern kann, dass meine Onkeln und Tanten zu meinen Geburtstagen eingeladen waren. Und wenn eben ein 20jähriger entscheidet, dass er seine Tante nicht einladen will, liegen die Gründe auch darin, dass er keinen Bezug zu dieser hat. Es hat insbesondere M. sehr bitter aufgestoßen, dass sein Geburtstag zu den gleichen Machtspielen missbraucht worden ist wie meiner im letzten Jahr, als es darum ging, dass meine Schwester nicht zum Weihnachtsfest eingeladen war. Ich denke, dass sie eine weitere Familie hat, nämlich die Eltern ihres Lebensgefährten, die auch ein Recht darauf haben, ihr Enkelkind zu sehen. Außerdem war sie bei mindestens 8 oder 9 Weihnachtsfesten bei Euch oder uns, ohne dass am Folgetag eine Einladung zu Ihrem Geburtstag erfolgte.
Für uns sollte das Weihnachtsfest die Gelegenheit sein, dass ihr D.Familie kennen lernen und den Abend mit Euren nunmehr erwachsenen Enkelkindern verbringen könnt, denn mittlerweile sind die Treffen wohl eher rar. Wäre meine Schwester dort da gewesen, wäre wieder alles um sie und ihr Kind gegangen, wie es oft bei solchen Gelegenheiten ist (Richtfest z.B., mein Geburtstag…).
Für mich ist die Eskalation an meinem Geburtstag eine Unverschämtheit ohnegleichen gewesen, die ich mir so bei Euch nicht erlauben dürfte: Erstens kann meine Schwester für sich selbst sprechen, zweitens konnte sie durch ihr Geschenk keine größere Geringschätzung ausdrücken, drittens hat sie fest damit gerechnet, dass Ihr schon Eure Meinung durchsetzt, nachdem das nicht so war, ist sie auf und davon. Das haben alle Anwesenden gleichermaßen hässlich empfunden.
An Ms Geburtstag hätte für uns und Euch das Ganze normal weiter laufen können, wenn Ihr akzeptiert hättet, dass wir in unserem Haus entscheiden, wenn wir zu Gast zu uns einladen.
Man kann keinen Frieden wiederherstellen, wenn man nicht darüber redet, worin eigentlich das Problem besteht. Als wir zu Euch gefahren sind im September, habe ich fest damit gerechnet, dass darüber gesprochen wird, was eigentlich das Problem ist, aber Ihr wolltet das Gespräch nicht? Hätte nicht zunächst eine Entschuldigung vorangehen müssen? Hätte man nicht sagen müssen, es tut uns leid, dass wir Euch Vorschriften machen wollten? Ich habe lange vorher darüber nachgedacht, ob es bei Euch auch so war, dass immer alle Onkel und Tanten eingeladen waren, bis zu meinem 18. Geburtstag, das war eigentlich nicht einmal bei Euren eigenen Geburtstagen so, oder? Stattdessen hatte ich das Gefühl, dass das – wie immer störrische –Kind durch elterliche Gnade in die Familie zurück geholt worden ist.
Die Wahrheit ist, dass ich meine Schwester nicht mehr einladen werde. Es sind einfach zu viele Dinge mittlerweile zusammengekommen, die eigentlich Kleinigkeiten sind, aber in der Summe für mich so nicht mehr erträglich weil ungerecht sind. Das kann man auch nicht mehr ändern. Mag sein, dass das für Euch auch ungerecht ist, aber so ist es nun einmal.
Im Moment ist es so, dass ich wieder bald Geburtstag habe und es mir schon unwohl ist, wenn man nicht aussprechen kann, dass sie nicht eingeladen ist, weder zum Geburtstag noch zu Weihnachten. Deshalb waren wir nicht bei Euch. Ich will nicht Illusionen von Versöhnung wecken, weil immer noch alles nicht besprochen worden ist.
Wir sind keine Diplomaten. Wir müssen nicht gegenseitig Noten austauschen. Aber gegenseitiger Anstand und Respekt wären mir wichtig. Das geht nur, wenn wir uns nichts vormachen. Und das heißt eben, dass Ihr mir keine Vorschriften machen dürft. Ich bin erwachsen. Und ich lasse mich auch nicht mehr anbrüllen. Wenn Ihr wollt, dass wir in Eurem Leben einen Platz haben und umgekehrt, heißt das, dass Ihr akzeptieren müsst, dass nicht alles so ist, wie es für euch ideal wäre. Für mich und uns war es viele Jahre nicht ideal und ich kann das nicht mehr aushalten:
Indirekte Vorwürfe, dass meine Schwester Angst vorm Heiraten hätte, weil ich mich hätte scheiden lassen. Direkte Vorwürfe und Neid von meiner Schwester, weil ich „mehr Geld bei gleicher Ausbildung verdiene…“. Dass sie allein in meinem Haus herumgeht (Richtfest, Geburtstag) und nicht ein einziges Wort in meine Richtung über die Lippen bringt. Dass sie es immer wieder schafft, sich bei allen Gelegenheiten auf die ein oder andere Weise in den Mittelpunkt zu rücken.
Man lädt sich im Allgemeinen solche Gäste nicht ins Haus. Wenn dann jedoch auch keine Gegeneinladungen, nicht einmal zum eigenen Geburtstag kommen, fühlt man sich obendrein noch ausgenutzt.
Ich würde mir wünschen, dass Ihr das so akzeptiert, auch wenn Ihr Euch etwas anderes wünscht. Das bedeutet auch, dass wir uns nicht zu den allgemeinen Familieneinladungen bei Euch sehen werden, denn ich werde mich mit meiner Schwester und Euch nicht mehr an einen Tisch setzen – dabei spielen auch andere Dinge eine Rolle, z.B. wie sie in der Vergangenheit ihren Lebensgefährten behandelt hat mit Eurer Tolerierung, mag er sein wie er will.
Wie ich oben schon geschrieben habe, sehe ich also schon wieder mit ungutem Gefühl dem Weihnachtsfest entgegen, obwohl es für mich auch durchaus sehr glückliche Momente haben wird…
Soviel zu meiner Gefühlslage. Ich bitte Euch, das Ganze einige Male zu lesen und auch zu überdenken, deshalb habe ich es aufgeschrieben. Es wird Euch einiges sicherlich bitter ankommen, vielleicht könntet Ihr mit weniger Zorn und Wut feststellen, dass ich mit einigem nicht ganz falsch liege und auch Ihr von der Situation in ähnlicher Weise betroffen seid. Ich unterstelle, dass Ihr immer das Beste gewollt habt. Das Beste für Euch ist jedoch nicht das Beste für mich.
Viele Grüße, Eure G.”
Beim nochmaligen Lesen heute ist mir eben aufgefallen, dass ich immer noch meine Eltern nicht verärgern wollte und um ihr Verständnis nachsuchte. Bisher war es immer so, dass ich, wenn ich Dinge ansprechen wollte, eine schnippische Antwort bekam “Na, dir muss es ja dreckig gegangen sein” oder “Da übertreibst du ja ganz schön, das stimmt so nicht” (was indirekt schon wieder eine Unterstellung von Lüge ist).
Ich habe eine Antwort bekommen, die jeglicher Beschreibung trotzt und über die ich fassunglos war. Nun steht mein Entschluss fest: Ich habe alle eMail-Konten von denen auf Spam gestellt, auch an der Arbeit, ich weiß ihre Nummern alle auswendig und werde nicht ans Tel. gehen. Und ich werde nicht mehr auf Ihre Anschuldigungen eingehen. Ich erinnere mich sehr an die fünf schönen Sommermonate ohne meine Herkunftsfamilie, wo ich wirklich sehr schöpferisch und kreativ sein konnte, im Garten mit meinem Partner und mit dne Kindern gearbeitet habe, aber die Angst, etwas falsch zu machen, oder dass mir jemand nicht glaubt und schlecht von mir denkt, ist allgegenwärtig.
Ich habe lange überlegt, ob ich Ihnen die Antwort meiner Eltern schicke, weil ich nicht wollte, dass Sie auch so von mir denken, obwohl ich weiß, und von meinem Partner bestätigt bekommen habe, dass meine Eltern die Tatsachen total verdrehen und deutlich erkennbar lügen. Aber ich denke, dieses Schreibens bedarf es nicht, liebe Frau Miller.
Mein fester Plan ist, kein Treffen mehr zuzulassen, auch nicht zu meiner Hochzeit. Mein fester Plan ist, nicht mehr auf ihre Anschuldigungen, Anfeindungen und Erpressungen einzugehen. Und nach den Signalen meines Körpers zu schauen, was sie mir über meine Kindheit sagen. Ich habe dieses Unartige in mir gehasst, weil es mich immer in die Situation von Hass, Gewalt; Demütigung und Todesangst gebracht hat – je älter ich wurde, desto aggressiver wurden die Attacken meines Vaters gegen mich. Ich wollte das Kind zerstören, in dem ich es aushungert habe, indem ich es zerkratzte, in dem ich es unterkühlte. Aber ich lebe noch. Auch wenn ich unter Druck stehe (Tinnitus, Bluthochdruck). Das gibt mir die Kraft zu sagen, ich überstehe das, auch wenn es schmerzlich ist.
Ich bin noch am Anfang – oder mitten drin – aber ich kann einfach den Druck und die Verleugnung der Taten meiner Eltern nicht mehr aushalten, ohne in völliger roter Wut andere Menschen zu zerstören.
Ich würde ich mich sehr freuen, wenn Sie mir eine Antwort schreiben könnten!

Herzliche Grüsse, G. T.

AM: Sie erwähnen in Ihrem Brief nur kurz und nebenbei, wie sehr Sie in Ihrer Kindheit geschlagen und gedemütigt wurden, so als ob Ihnen noch heute, für das bloße Sagen, die schlimmsten Strafen gedroht hätten. Sicher war es so, und dies erklärt, weshalb es Ihnen so schwer fällt, Ihre berechtigte Empörung und Wut zuzulassen. Aber Ihre Angst wird bald abnehmen, weil Sie sich in der Richtung zu Ihrer Wahrheit bewegen. Sie zeigen deutlich Ihren Wunsch, sich nicht länger zu belügen und endlich dem kleinen Wesen, das Sie waren (und das Ihre Eltern Lügnerin nannten und für deren Wahrheiten sie es schlugen) zu glauben, sowie ihm treu zu bleiben. Auch wenn Sie noch versuchen, Ihren Eltern Ihre Gefühle zu erklären, um deren Wut zu vermeiden, Sie scheinen zunehmend zu merken, dass Sie nichts damit erreichen werden. Denn Ihre Eltern sind offenbar nicht im geringsten daran interessiert, Sie und Ihre Argumente zu verstehen, sondern nur daran, die seit jeher in ihnen gespeicherte unbewusste Wut auf Ihre Kosten zu entladen. Aber Sie wollen ja nicht länger als Container Ihrer Eltern funktionieren, und es ist Ihr gutes Recht, sich von dieser Rolle befreien zu wollen – endgültig.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet