Empfindungslos

Empfindungslos
Sunday 24 December 2006

Liebe Frau Miller,

ich habe Ihnen vor 2 Monaten geschrieben und Ihnen von meiner Kindheit berichtet, sexueller Missbrauch durch meinen Bruder und dass ich keinen Zugang zu meiner Wut finde. Ich bin mit ´Hilfe einer sehr kompetenten Therapeutin, von der ich auch Ihr Buch empfohlen bekommen habe (Das Drama des begabten KIndes) meinen Weg weitergegangen und versuche, dieses Traumata meiner Kindheit aufzuarbeiten. Wut ist noch immer nicht von mir spürbar, aber eine ganz große Trauer hat sich meiner bemächtigt.Ich bin in gutem Kontakt zu ´meinem inneren Kind und spüre die große Trauer, die das Kind spürt. Es ist eine untröstliche Trauer. Ich versuche, dem Kind gut zuzureden, ihm gut zu sein, aber das gelingt mir nur sehr schwer. Auch meine Therapeutin versucht, dem Kind gut zu sein, sagt ihm immer wieder, dass es keine Schuld hat, aber das Kind ist so auf seine Schuld fixiert, dass nur schwer zugängig ist. Ich weiß als Erwachsene, dass ich keine Schuld habe, und dennoch kommt es nicht an in der Tiefe, dort wo das Kind sitzt und trauert.
Können Sie mir einen Rat geben, wie ich da wieder rauskommen. Ich sehe es schon als einen Fortschritt án, dass ich trauern kann, denn vorher war ich ziemlich empfindungslos. Aber es belastet mich und nimmt mir jede LEbensenergie.
Über eine Antwort würde ich mich freuen. Die letzte Antwort, die ich von Íhnen erhalten habe, hat mir sehr gut getan und mich weitergebracht.
Ich wünsche Ihnen alles Gute Ihre P. M.

AM: Sie schreiben: „Können Sie mir einen Rat geben, wie ich da wieder rauskommen. Ich sehe es schon als einen Fortschritt an, dass ich trauern kann, denn vorher war ich ziemlich empfindungslos.“ Sie mussten früher empfindungslos sein und jetzt dürfen Sie um das Kind trauern. Es hat Ihnen also viel mitzuteilen. Warum wollen Sie es wieder verlassen und möchten, dass ich Ihnen helfe, da “herauszukommen”? Das könnte ich gar nicht verantworten. Auch in meinen Augen ist es ein Fortschritt, dass Sie endlich fühlen können. Die Angst vor der Wut ist natürlich begründet, weil man Sie geschlagen hätte, wenn Sie sich gewehrt hätten. Aber diese Angst wird mit der Zeit nachlassen, weil Sie sich von Ihrer Therapeutin begleitet fühlen. Vertrauen Sie Ihrem Körper, er wird schon den richtigen Zeitpunkt für die Empörung und die Wut finden, die Ihnen voll zustehen.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet