Selbstachtung

Selbstachtung
Friday 12 December 2008

Liebe Alice Miller,

ich habe Ihnen schon dreimal geschrieben und jedes mal hat mich Ihre Antwort wieder ein Stück weiter zu mir gebracht. Es ist so schrecklich festzustellen, wie schwer es ist, die Wut gegenüber seinen Eltern zu empfinden.

Wie zerstörerisch das Heilige, das vermeintlich aufopfernde Verhalten einer Mutter sein kann. Die dich krank haben will, um sich um dich zu kümmern. Und wenn es dir besser geht, solange nicht in Ruhe läßt, bis es dir wieder schlecht geht. Du wirst krank, nur damit sie dich nicht länger quält. Du willst deine Ruhe, wenigstens etwas Ruhe von ihr haben. Sie weckt dich auf, sie reibt dir den Rücken, auch wenn du es nicht magst, nicht von ihr. Wie zerstörerisch die Hilfe, die vermeintliche Hilfe einer Mutter sein kann, die jede aufkommende Freude in deinen Augen sieht und sie dann gleich zerstört. „Freu dich nicht zu früh,” ist so ein Satz den ich immer wieder hörte. Meine Mutter hat die Freude, jede die ich hatte, mit Vorahnungen, Krankheitsgeschichten zerstört. Sie machte mich zum kranken Kind. Ihre Opferhaltung wurde noch durch meinen Vater aufgewertet, der auch ständig sagte, ich müsste meiner Mutter dankbar sein. Und für sich selbst tat diese Frau dann nichts. Sie litt, das war für mich zu sehn. Und alles was ich tat, und auch versuchte, ihr zu helfen, beizustehen, das reichte niemals aus, um ihren Zustand zu verbessern und auch meinen irgendwie zu halten. Sie kümmerte sich offenbar nicht um ihren Zustand. Was ich nicht verstand. Sie hatte niemals Mitleid mit einem meiner Schmerzen, aber mich bemuttern tat sie wohl. Es hat mich später immer selbst erschreckt, mit wie wenig an Liebe und Mitleid ich an meine Mutter gedacht habe. Wie wenig da in mir war. Und alle redeten ununterbrochen von Liebe und Geborgenheit und Familie, was das beste sei. Ich schämte mich sehr wohl in mir, und bezichtigte mich stets selbst als grausam kalt und als Versager der Gefühle. Als wäre ich der Grausame. Was ich nie sah nie sehen konnte, war, dass meine Mutter selbst niemals sich selbst beschrieb, und sich auch niemals um sich selbst kümmerte, sie winkte ab, wenn ich ihr helfen wollte, sie hörte weg, wenn ich ihr riet, sie schimpfte über meinen Vater, doch wenn ich ihre Partei ergriff, ermahnte sie mich stets, das nicht zu tun. Sie kümmerte sich niemals um sich. Sie litt und blühte auf in ihren Schmerzen. Sie rief mich immer an, wenn es ihr schlecht ging. Und wenn sie glauben musste, dass es mir gut ging, dann ging es ihr gleich noch mal schlechter. Sie war die Heilige. Die Heiligen sind das entsetzlichste was es gibt. Sie löschen jede Liebe aus, sie töten jeden Freudenfunken, sie ertragen sich nicht selbst, sie reden nur vom anderen. Sie dienen nur dem Vaterrecht, das Kind zu unterdrücken und zum Gehorsam zu zwingen, egal um welchen Preis und sei es auch um das des Lebens eines unschuldigen Kindes. Die Heiligen opfern alles, jedes Gefühl der Liebe und Freude und des Mitgefühls wird von ihrer Gleichgültigkeit totgefroren. Es ist mir nie in den Sinn gekommen, dass ich meiner Mutter nicht helfen kann, weil niemand ihr helfen kann. Ich habe immer gedacht, dass sei mein ganz persönliches Versagen. Ich habe nie verstanden, dass wenn sie sich nicht selbst helfen kann, und sich nicht helfen lassen will, sie selbst sich nicht empfindet. Und wie sollte ein Mensch der sich nicht selbst empfindet, keine Gefühle für sich selbst hat, mir, einem Kind gegenüber Gefühle haben. Sie empfand nichts weiter als den Schrecken ihrer eigenen Kindheit und erschreckte mich. Mit Verstecken und Todesspielen, in denen sie sich tot stellte und erst wieder die Augen aufschlug, als ich in Tränen aufgelöst und in die Hose gemacht hatte. Dann lachte sie und tat, als wäre nichts geschehen und alles nur meine Einbildung. Ich habe schrecklich darunter gelitten, ihr niemals wirklich geholfen zu haben. Ich fand, ich liebte sie zu wenig, und war vielleicht auch dumm, und doch ein wenig roh um sie zu verstehen, wie sie es gern gehabt hätte. Sie zu verstehen, darum war ich auf die Welt kommen. Sie und Ihn, den Vater der mich schlug und niemals dann zuhause war. Es war für mich schrecklich mit anzusehen, wie sie sich offenbar für mich und meinen Vater und meine Schwester opferte und selbst unglücklich und alleine blieb. Junkies erinnerten mich seltsamerweise immer an meine Mutter. Drogenabhängige, die mit betäubten Augen, sich ergaben und scheinbar von nichts mehr zu beeindrucken waren. Die keinerlei Kontakt mehr zu Schmerzen und Freude und Lebendigkeit hatten. Nichttote erinnerten mich ebenso immer wieder an meine Mutter. Wesen die in Trance umherirrten.

Es ist für ein Kind ein entsetzlicher Schmerz zu glauben, für das Unglück der Mutter verantwortlich zu sein, und nichts dagegen tun zu können um dieses Unglück zu verbessern oder gar zu beseitigen. Augenscheinlich langte in mir die Liebe nicht. Vielleicht war ich auch schlichtweg einfach böse, wie sie mir immer wieder beteuerten. Jedenfalls war ich niemals in der Lage, die Gefühle meiner Mutter zu verbessern. Dass jemand, der sich nicht um sich selbst Sorgen macht, auch einem anderen nicht beibringen kann, sich um sich selbst zu sorgen. Dass jemand der sich selbst nicht liebt, nicht lieben kann, einem Kind die Liebe weder entgegenbringen kann, noch sie lehren kann. Dass so einem Menschen, der sich nicht selbst helfen und fühlen kann, nicht zu helfen ist, das konnte ich als Kind nicht wissen.

Die vielen die Ihnen schreiben, sind Zeugen, die mir zeigen, dass sie sich um sich kümmern, dass sie sich endlich um sich selbst kümmern und somit auch das Leid der anderen wahrnehmen. So nehmen sie auch mich wahr und geben mir das Gefühl eben nicht allein zu sein. Bei meiner Mutter, in ihrer von ihr geduldeten Nähe, fühlte ich mich immer allein, nicht nur alleingelassen, auch mutterseelenallein. Denn meine Mutter hatte für mich keinen Teil ihrer Seele für mich übrig. Ich fühle mich aufgehoben, wenn ich die mutigen und beharrlichen Berichte von Menschen hier lese, die schreckliches erlebt haben und sich eben nicht aufgeben und keine Heiligen werden wollen. Die eben nicht alles erdulden wollen und sich wehren, und wütend sich gegen die Heiligen Eltern zur Wehr setzen. Heilige haben keinen Zorn und verspüren keine Wut, Heilige sind für die Bedürfnisse anderer unzugänglich. Für Heilige sind die Bedürfnisse eines Kindes nicht sichtbar. Heilige sind blind für die Bedürfnisse der Kinder. Heilige verstehen vielleicht die Sprache ihres Gottes, aber die Äußerungen eines Kindes, das auf Hilfe angewiesen ist, verstehen sie nicht. Kinder brauchen keinen Gott. Auch keine Lehren, nicht mal Erziehung brauchen sie. Sie brauchen Zuwendung, nur so lernt einer mal zu lieben, von Anfang an. Jetzt habe ich wieder soviel geschrieben und bin wahnsinnig wütend auf meine Mutter die Heilige und meinen Vater, den Gott. Es macht mich immer noch wütend, wenn ich mich sehe, wie wehrlos und unglücklich ich gewesen bin, und wie beide Gott und seine Heilige meine Schmerzen und mein Unglück nicht wahrgenommen haben. Das schlimmste das es gibt ist, kein Kind sein zu dürfen, und das durfte ich nie, denn meine Eltern nahmen niemals meine Bedürfnisse ernst. Ich sollte immer ihre wahrnehmen. Ich danke allen die hier schreiben, denn sie sind es, die auf uns Kinder schauen, weil sie auf sich selbst als Kinder endlich schauen können, und sich somit achten.

Herzliche Grüße

H.R.

AM: Ihr Brief ist erschütternd, die Beschreibung Ihrer Mutter ist nicht nur mutig und wahrhaftig, sie ist auch von großer Präzision. Wie soll eine Heilige mit ihrem Kind mitfühlen können, wenn sie doch so früh gelernt hat, nicht zu fühlen? Sie kann auch kein Mitgefühl empfangen, wie Sie mit recht feststellen konnten. Das Kind fühlt sich schuldig und ungenügend, weil es doch helfen möchte und nicht kann. Wievielen Menschen geht es genauso. Kein Kind kann seine Mutter aus der Depression erlösen. Wie allein muss es sich fühlen, wenn es nie wahrgenommen wird, ausser wenn es darum geht, seine Freude zu zerstören?Sie haben als Kind schrecklich gelitten, und leiden vielleicht noch immer, aber es ist ein Glück, dass Sie Ihre Eltern so klar zu sehen wagen, weil das ein wichtiger Schlüssel zu Ihrer vollständigen Befreiung sein könnte. Es gibt Millionen von Frauen, die ihre Kinder genau so behandeln, wie Ihre Mutter dies getan hat, aber im Unterschied zu Ihnen wissen die erwachsenen Kinder später fast NICHTS darüber. Auch wenn sie es ahnen, glauben sie ihren Ahnungen nicht, sie denken: “Es kann doch nicht sein, dass ich eine total gefühstote Mutter gehabt habe, eine Mutter, die mir jede Freude verderben musste (wie häufig kommt das aber vor!!) eine Mutter, die keine blasse Ahnung hatte von dem, wer ich war und bin, die mich ständig ausgerechnet davor warnte, was mich interessierte und mir gut getan hätte?” Sie haben Ihre Eltern erkannt und beschrieben, und ich meine, dass Ihnen dies ersparen wird, erneut zum Opfer solcher Menschen als auch zum Opfer alter Illusionen zu werden. Um das Lebendige, Aufrichtige in anderen Menschen wahrzunehmen, muss man das Verlogene, Falsche und Grausame in unserer Kindheit durchschaut haben. Dann ist es, als hätten wir die gesunden, beschützenden Instinkte wiedergewonnen, die man uns in der Kindheit verboten hat zu spüren.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet