Erinnerungen verstecken sich, vielleicht aus gutem Grund

Erinnerungen verstecken sich, vielleicht aus gutem Grund
Friday 07 September 2007

Liebe Alice Miller!

Seit ich Ihre Bücher lese (das erste las ich vor gut einem Jahr) bin ich immer mehr davon überzeugt, wie wichtig die Vergangenheit für mein heutiges Erleben ist. Da mich mein letzter Therapeut in dieser Hinsicht immer wieder verwirrt und vom Weg abgebracht hat, habe ich ihn vor knapp 3 Wochen verlassen. Ich hatte das Gefühl, er benutzt meine Kindheitserfahrungen, wie es ihm nützlich erscheint. Auf der einen Seite stellte er mir verwundert die Frage, was meine heutige Situation mit der Gewalt meines Vater von vor 10 Jahren zu tun hätte, auf der anderen Seite zog er immer wieder den in mir schwelenden Vater-und Autoritätskonflikt heran, wenn ich mich daran machte, die Beziehung zwischen ihm und mir sowie sein Vorgehen in der Therapie zu kritisieren.
Die Therapie bei einem solchen Menschen abzubrechen ist kein Verlust, eher eine Befreiung.
Ich brauchte einige Tage, um mich mit dem Gedanken vertraut zu machen, erstmal ohne therapeutische Hilfestellung dazustehen. Dann kam mir folgende Idee: ich wollte anfangen, meine Lebensgeschichte aufzuschreiben. Das geht natürlich nicht ohne weiteres. Ich bin im April 1981 geboren, natürlich habe ich keine aktiven Erinnerungen mehr an diese Zeit. Selbst wenn ich über den April 1985 berichten wollte, würde das Papier weiß bleiben. Trotz einiger Jahre Therapien stehe ich meiner Kindheit immer noch wie einer verschlossenen Truhe gegenüber. Die Beschäftigung mit früher verschafft mir selten Erleichterung, da sie mir oft wie „doppelt negativ“ vorkommt.
Ich bemerkte z.B., dass ich in Supermärkten immer etwas nervös bin, wenn ich an dem Wachmann am Eingang vorbeigehe. Ich denke die ganze Zeit, ich müsste meine Unschuld beweisen, da er mich sowieso a priori für einen Dieb hält. Ich fühle mich einfach schuldig, ohne irgendwas getan zu haben. (als Kind und Jugendlicher habe ich ein paar mal gestohlen, ein Mal bin ich auch dabei erwischt worden) Die Verbindung zu früher fällt mir nicht schwer. Ich denke sofort an meinen mißtrauischen Vater, der mich auch immer überwacht hat. Wahrscheinlich hat er mich als a priori schuldig und sündig eingestuft, so ist seine Sicht auf den Menschen generell, und besonders auf Kinder. Einmal hatten meine Eltern abends Besuch. Da es sehr leckere Süßigkeiten gab, (immer wenn Besuch da war), haben wir uns immer wieder rausgeschlichen, um dabei zu sein. Mein Vater hat uns beide sehr streng ermahnt. Beim nächsten Versuch, aus dem Kinderzimmer zu entfliehen, sind beim Öffnen der Türe ein paar Stühle zusammengestürzt, die meinen Vater sofort alarmiert haben. Er hatte sie gegen unsere Tür gelehnt, um unseren „Ausbruch“ sofort im Keim zu ersticken. Ich weiß nicht mehr, was dann passiert ist.
Jahre später bestand mein Vater darauf, dass wir uns morgens kalt waschen, da es gut für die Gesundheit sein sollte (wahrscheinlich war er genervt von unseren vielen Krankheiten). Ich habe es nicht getan, und trotzdem so getan als ob. Dann hat er mich auf einmal streng ermahnt, dass ich ihn gefälligst nicht anlügen solle! Ich war total erschrocken, wie konnte er denn wissen, wie ich mich morgens im Bad wasche? Er sagte mir, dass er nach mir im Badezimmer die Temperatur des Wasserhahns kontrolliert hätte, und da warmes Wasser floß, muss auch vorher bei mir warmes Wasser geflossen sein.
Leider nützen mir diese Erinnerungen nicht viel. Ich sage deshalb doppelt negativ, da mir negative Erinnerungen in gewisser Weise bestätigen, warum ich auch heute noch so viel Angst vor Kontrolle habe. Beim Einkaufen, wenn ich Polizeiautos sehe, bei mißtrauischen Freundinnen… Der Kausalzusammenhang ist klar, rationell ist alles in Sack und Tüten. Aber es kommt ein Gefühl der Verzweiflung auf. Du bist so, weil man das mit dir gemacht hat. Es sieht nicht nach Ausweg aus. Eher nach ewiger Manifestation der gleichen irrationalen Ängste.
Noch zu meiner Lebensgeschichte. Ich habe von hinten angefangen. Ich habe mir ein Schlüsselereignis aus dem Jahre 2001 herausgepickt und mich fürs erste von November 2001 bis Juli vorgetastet. Noch sind die Erinnerungen an Reisen, Freunde und Hobbies sehr aktiv. Aber schon in der Familie wird es immer dunkler. Schon im Juni fällt mir gar nichts mehr ein, und das war erst vor 6 Jahren!!
Ich möchte Sie nicht mit der allzu pauschalen Frage, wie man seine Erinnerungen lebhaft aktivieren kann, belasten. Ich möchte einfach nur zum Ausdruck bringen, dass mir diese Idee des Rückwärtserzählens zwar lohnenswert erscheint, ich aber trotzdem schon an Grenzen stoße. Ich weiß, das braucht alles Zeit, und ich fürchte, dass es auch nicht ganz alleine geht. Oder doch?

AM: Sie haben recht, wir lassen nicht zu viel Erinnerungen zu, aus Angst vor den Schmerzen und unserer Wut, die in der Kindheit schwer bestraft wurde. Aber heute kann Ihr Vater Sie nicht mehr strafen, außer wenn Sie es ihm erlauben. Sie haben VIELE Erinnerungen, brauchen gar nicht noch mehr zu haben, um gegen das bizzare, kontrollierende, unberechenbare Verhalten Ihres Vaters zu rebellieren. Es genügt vollauf, was Sie wissen, aber Ihre Angst (heute nicht mehr begründet) hindert Sie, dieses Wissen ernst zu nehmen. In Ihrem früheren Brief in französischer Sprache haben Sie erzählt, wie Ihr Vater ganz plötzlich Ihren Bruder angreifen wollte und Ihre Mutter dabei verletzte. Ein solcher Vater macht dem Kind panische Angst, die verdrängt werden muß, und es ist diese verdrängte Angst des kleinen Jungen, die Ihre unterdrückte Wut zurückhält und Sie an der Revolte hindert. Vielleicht können Sie dem verängstigten Kind einmal erklären, dass der Vater heute keine Macht mehr hat, damit es Ihnen erlaubt, die unbändige Wut zu spüren, die seit 20 Jahren in seinem Körper wartet, um endlich ERLEBT, verstanden und ausgedrückt zu werden. Damit sich der Körper befreien kann. Wenn Sie das Buch „Die Revolte des Körpers“ haben, würde ich Ihnen empfehlen, das Kapitel über Friedrich von Schiller genau zu lesen, insbesondere die Seiten über die Schikanen des Vaters, der zum Beispiel verlangte, dass die Kinder aufhören zu essen, wenn ihnen das Gericht besonders gut schmeckt. Alle Dramen Schillers kreisen um die Revolte gegen absurde Befehle der Autoritäten, aber über seine Wut auf einen solchen Vater hat Schiller nirgends etwas geschrieben. Er starb sehr früh an seinen körperlichen Schmerzen, die ihn wohl an die grausamen Strafen zu Hause und in der Militärschule mahnten, ohne dass er diese Tatsache ins Bewusstsein zuließ. Und gerade deshalb.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet