Die Wut als Beziehungsangebot

Die Wut als Beziehungsangebot
Sunday 24 June 2007

Liebe Alice Miller!

Wieder einmal habe ich die Leserpost auf Ihrer Seite überflogen und bei dem Beitrag „Kuraufenthalt“ vom 14.4. traf mich fast der Schlag. Die gleiche Geschichte, die dort von B.K. geschildert wurde, ist mir ebenso passiert!
Vor über einem Jahr bin ich in Folge eines schweren Verkehrsunfalls auf eine psychosomatische Kur gekommen. Die Klinik war angeblich auf Traumapatienten spezialisiert. Sehr schnell haben sich die Ursachen vermischt und es ging in den Gesprächen mehr um Ereignisse, die sich deutlich vor dem Unfall ereignet hatten. Mein Gefühl war folgendes: die nehmen meinen Unfall überhaupt nicht ernst und erzählen mir ständig nur, was für ein gestörter Mensch ich bin. (natürlich durch die Blume) Als ich dann meinen Entlassungsbericht in die Hände bekam, habe ich ihn genau wie B.K. erst mal nicht gelesen. Warum denn auch? Hätte es mir irgendetwas geben können? Irgendwann wollte ich aber schon wissen, was denn überhaupt drin steht, schließlich bin ich damit bei meiner Hausärztin und meinem Therapeuten vorstellig gewesen. Und dort stand neben den altbekannten Diagnosen auch Verdacht auf NPS! Davon war auf der Kur nie die Rede gewesen!
Was mich aber viel mehr schockiert, ist die Tatsache, dass ich diese Diagnose bis heute einfach so akzeptiert habe. Ja noch schlimmer, seitdem habe ich sogar angefangen, in mir selbst jemanden zu sehen, der immer egozentrischer und selbstgerechter wird. Es muss ja auch so sein, schließlich ist dies von erfahrenen Fachkräften festgestellt worden. Oder nicht?
Ach was, totaler Unsinn!! Die ganze Kur hat mir sowieso nichts als Schuldgefühle eingebracht und da ich sehr hohe Erwartungen reingesteckt hatte, war die nachfolgende Verzweiflung nur umso größer. Und ich stand genau am selben Punkt wie auch vor der Kur: ich bin sehr krank, gestört, muss Medikamente nehmen, und sollte am besten ständig nur Therapie machen. Grässlich, wenn ich nur an die Atmosphäre dieser Kur zurückdenke. Jeden Tag Therapie, jeden Tag Schuldgefühle, jeden Tag auf sich selbst rumhacken.
Ich möchte mich jetzt aber nicht mehr weiter über diese Diagnose aufregen… Viel wichtiger ist es, dass ich selbst aufhöre, mich in irgendeiner Form abzustempeln. Wie oft habe ich mich schon als depressiver oder angestörter Mensch angesehen! Als ob das alles wäre, was meine Persönlichkeit zu bieten hat!

Sie haben vollkommen recht, wenn Sie sagen, dass Traurigkeit akzeptiert wird, wohingegen Wut und Ärger gefürchtet werden. Wer möchte denn nicht gerne einen traurigen Menschen trösten, um sich selbst zu beweisen, ein mitfühlender Mensch zu sein?
Es fällt mir ungelogen zentnerschwer, auch nur eine Spur von Ärger oder Wut zu zeigen. Es können ganz banale Sachen sein. Ich ärgere mich z.B. darüber, dass mein Mitbewohner meine Eier aus dem Kühlschrank gegessen hat, ohne mich zu fragen. Und dann kommt er nach Hause, und ich fühle den Zwang, nett zu ihm zu sein. Ihn nach seinem Tag zu fragen, ein nettes humorvolles Gespräch anzuknüpfen. Mich selbst mit meinen unreifen Gefühlen ganz zurückzunehmen. So viele Zwänge! Dabei möchte ich doch einfach mal nur meinen Ärger zeigen dürfen!! Ohne mir dafür Vorwürfe machen zu lassen. (Nun sei doch nicht so kleinlich. Als ob die paar Eier so wichtig wären, dass man sich darüber aufregt. Bin ich dir nicht viel wichtiger? ) Das sind jedoch alles nur Fantasiesätze, die ich antizipiere, ja richtiggehend erwarte. So als ob ich immer nur so etwas gehört hätte. Ich werde mich sicher bald noch genauer daran erinnern, was ich tatsächlich gehört habe, wenn ich wütend war.
Im Grunde ist es der ganze Ärger und Frust, der mir seit vielen Jahren schon ganz oben im Hals klebt und einfach nicht raus darf. Die Traurigkeit habe ich einigermaßen ausgelebt, würde ich sagen. Ich habe oft über meine Kindheitserinnerungen geweint und einen ganzen Haufen sehr melancholische Lieder auf dem Klavier geschrieben. Aber seit ein paar Wochen kommt da nichts mehr! Ich kann einfach nicht mehr weinen und am Klavier ekelt mich die traurige Spielweise richtig an. So als ob ich mich immer wieder in die Traurigkeit und Depression flüchten würde, um nicht das fühlen zu müssen, was auch die Schuld von mir selbst ein Stück wegschiebt. Das ist so eine Ahnung oder Theorie von mir, denn der Verlust meiner künstlerischen Fähigkeit war schon ein Ereignis, das mich zum Nachdenken gebracht hat. Aber ich sehe es nicht nur als Verlust, ich habe gemerkt, dass die Musik in einer Zeit entstanden ist, in der sich primär Trauergefühle aufgedrängt haben. Vielleicht auch, weil die Wut noch nie erlaubt gewesen ist.
Ich sehe darin ja eine Dichotomie. Die Traurigkeit und Depression als Rückzug in die eigenen Gefühle und die eigene Verantwortlichkeit, mit der Folge von Isolation. Und die Wut und der Hass als Beziehungsangebot, das die eigenen Gefühle mit anderen Menschen verknüpft und zumindest nicht zur Vereinsamung führt.
Leider kenne ich bisher nur ersteres, da ich mir bei aufkommenden Wutgefühlen immer wieder die eine Frage stelle: „Darf ich denn so sein..?“

Danke fürs Lesen und auch für den Tipp mit der „Revolte des Körpers“. (letzter Brief vom September 2006) Ich könnte auch noch zu diesem Buch und besonders zu Marcel Proust so viel sagen, aber das hebe ich mir für das nächste Mal auf.

T.M

AM: Sie schreiben: „Ich sehe darin ja eine Dichotomie. Die Traurigkeit und Depression als Rückzug …., mit der Folge von Isolation. Und die Wut und der Hass als Beziehungsangebot, das die eigenen Gefühle mit anderen Menschen verknüpft und zumindest nicht zur Vereinsamung führt.“
Besser könnten Sie Ihre Situation kaum schildern. Und diese Schilderung trifft auf sehr viele Menschen zu. Sie haben ANGST vor Ihrer Wut, weil sie Ihnen verboten wurde. Sie MÖCHTEN sie jetzt erleben, weil Sie den Sinn davon verstanden haben und theoretisch zumindest wissen, dass Ihnen HEUTE keine Gefahren drohen, wenn Sie Ihre Wut zeigen. Sie wissen auch, dass es Ihren Körper entlasten würde, wenn Sie es wagen, Ihren Zorn zu erleben und ihn als berechtigt zu verstehen. Doch die begreifliche Angst des kleinen Jungen scheint größer zu sein als Ihre Einsicht, zumal die Angst UND die Wut durch die Medikamente unterdrückt und daher nicht bewusst erlebbar werden. Doch OHNE Medikamente ließe sich die Angst schrittweise zulassen, erleben und verstehen. Dann öffnet sich der Weg zu der Wut, die schon lange darauf wartet, befreit zu werden um SIE zu befreien. Fragen Sie den kleinen Jungen, der Sie waren, was ihm so Angst macht, was er befürchtet, wenn Sie die Wut zuließen. Er wird Ihnen sicher eine präzise Antwort geben. Sie können sich darauf verlassen, dass er nicht lügt, Es bleibt Ihnen nur, seine Auskunft ernst zu nehmen.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet