Die gute und die schlechte Wut?

Die gute und die schlechte Wut?
Thursday 30 April 2009

Liebe Frau Miller,

Ich hatte einen Traum. Ich stehe als zweijähriger allein am Rande einer Rampe. Plötzlich tritt hinter mir, aus dem Dunkel, ein zehnjähriger Junge, der ich auch bin, hervor, packt blitzartig mit beiden Händen den linken Arm des Kleinen, macht ein wütendes Gesicht und lässt mich nicht mehr los.

Der Zupackende, das ist der, den es auch gibt, der aber nicht sein darf, vom Vater aus nicht, der Wütende, der seine Wut unverhohlen zeigt. Aber vor dem Vater ist nur der kleine Junge erlaubt und darf sein. Der stumm verharrt, auch in seiner größten Not und Einsamkeit, allein vor dem Abgrund steht und bereit ist hinunterzuspringen; wie er es schon einmal gemacht hat und sich weh getan hat, aber wieder nicht getröstet wurde. Dieser Junge ist so einsam, daß er sich nicht mehr um sich selbst sorgen will. Der schaut nicht mehr wohin er tritt und was er tut. Der andere aber, der plötzlich aus dem Dunkel kommt, an den Kleinen heran tritt, ihn am Arm fasst und nicht mehr loslässt, dieser Junge hat mich verwirrt, weil ich Angst vor ihm bekam, weil er aussah wie mein Vater, wenn er wütend war.

Ich ging längere Zeit mit diesem Traum in mir hausieren, bis ich fühlte, daß dieser Junge mir und dem Kleinen etwas zeigen will. Wie wütend er sein kann und daß er mir mit seiner Wut sagen will: Spring nicht! Spring nicht! Ich halte dich. Ich bin nicht Vater, der dich springen läßt.

Etwas später spürte ich, daß der kleinere Junge sich immer einen größeren Jungen gewünscht hat, der ihn festhält und bei ihm bleibt, wenn er ihn braucht. Und dann merkte ich, daß der größere Junge mein Traum und mein einziger wissender Zeuge ist, den ich von Anfang an hatte.

Daß ich das erkannt habe, verdanke ich besonders Ihnen Frau Miller und den vielen anderen die Ihnen schreiben. Vorher dachte ich immer, es gibt eine gute und eine schlechte Wut. Aber das stimmt nicht.

Ich wünsche Ihnen alles Gute

Mit herzlichen Grüßen, HR

AM: Es ist ein schöner Traum, und es ist so hilfreich, dass Sie ihn verstehen. Ich denke, dass wenn man den Grund seiner Wut begriffen hat, kann sie uns nur Gutes bringen. Meinen Sie, dass die blinde Wut die schlechte sei? Ja, wenn man sie nicht verstehen will, kann sie Unheil anrichten, meine ich.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet