Leserbrief

Leserbrief
Friday 02 November 2007

Liebe Alice Miller,

zuerst einmal möchte ich Ihnen danken. Je mehr ich selbst fühle, um so mehr sehe ich, wie mutig Sie waren und sind. Ich kann plötzlich sehen, wie schlimm es wirklich um viele Menschen steht. Ich kann fühlen, wie wenig ich bisher mein eigenes Leben leben konnte, und ich kann an meinen Freunden sehen, wie sehr auch diese verstörten Kindern gleichen. Vor kurzem konnte ich zum ersten Mal körperlich meine große Wut über schwere Mißhandlungen fühlen, und fühlte mich total befreit. Doch immer wieder bin ich blockiert und identifiziere mich mit den Angreifern. Und dann kommt eine neue innere Stimme, mein wahres Selbst und sagt: Nein, ich will mich nicht mehr abtöten, ich will das nicht mehr tun, ich will ich sein. Ich habe mir Ihr neues Buch “Dein gerettetes Leben” gekauft und sofort verschlungen. Ich merke, dass ich Sie noch oft brauche und mich frage: was würde Alice Miller dazu sagen. Aber sehr oft brauche ich diese Hilfe auch gar nicht mehr. Ich werde immer stärker, und stärker heißt auch weicher, sensibler. Wissen Sie, ich begreife erst langsam, dass es wirklich so ist, dass ich eine Verantwortung dafür habe, die Wahrheit über meine Eltern zu sehen. Sie haben Recht, ich als Erwachsene brauche meine Eltern nicht mehr. Als Kind musste ich alles übersehen und mich selbst abtöten. Ich hatte keine Wahl. Jetzt bin ich dazu verpflichtet, meine Wahrheit zu fühlen. Es geht nicht anders, ich kann mich davor nicht drücken. Dieses Bewußtsein tut mir gut. Ich möchte meine Wut auf die Menschen fühlen die mich verletzt haben. Ich habe die ersten 4 Wochen meines Lebens in einem Wärmebettchen zugebracht, meine Mutter hat mich täglich kurz besucht. Angeblich wurde gut für mich gesorgt. Doch ich sage: ich wurde beinahe umgebracht. Meine eigene Wahrheit sieht ganz anders aus als die der anderen Beteiligten. Ich weiß, daß ich mich in einem permanenten Ausnahmezustand befunden habe. Ich weiß, dass lauter Menschen um mich herumwuselten, und nicht einer von denen hat meine Not mitgefühlt. Das erfüllt mich mit grenzenlosem Ekel und großer Wut. Niemand wollte wissen, wie sich das Baby fühlt, so zwischen Leben und Tod, ohne die Mutter. Niemand wollte das aushalten, aber das Baby soll es aushalten. Wissen Sie, das ist es, was mich so entsetzt, die Erwachsenen haben Angst vor den qualvollen Gefühlen der Kinder und wollen diese nicht aushalten. Aber die Kinder sollen es aushalten!!! Liebe Frau Miller, jeden Tag habe ich noch diese Impulse mich selbst abzutöten, meine kindlichen Gefühle. Doch dann sage ich: Nein, ich tue es nicht, ich töte mich nicht ab, ich muß das nicht mehr tun, und ich werde es nicht mehr tun. Ich bin von Anfang an daran gehindert worden, mich selbst zu spüren von haßerfüllten kalten Menschen. Jetzt haben diese Menschen keine Macht mehr über mich.
Ich glaube Ihnen, was Sie schreiben, weil ich es konkret an mir selbst erlebe, wie sehr Sie recht haben.
Und es ist so herrlich für mich, Entscheidungen treffen zu können. Ich lege meine Zwänge ab, einen nach dem anderen. Eine unglaublich tolle Erfahrung.
Am meisten beeindruckt mich, wie Sie immer wieder auf den Körper hinweisen, der die Wahrheit kennt. Es ist doch klasse, dass man sich so auf den Körper verlassen kann, wenn man ihn ernst nimmt.
Denken Sie auch, dass wir als Erwachsene die Wahrheit sehen müssen und ihr nicht ausweichen dürfen? Das dies bedeutet, wirklich erwachsen zu sein, und sich dem zu stellen, dass man ein Einzelwesen ist, ein Mensch?

Herzliche Grüße, A. K.

AM: Sie sagen in Ihrem Brief so viel Wahres und Durchlebtes, dass ich sehr dankbar bin, ihn publizieren zu dürfen. Wir haben die Verantwortung zu sehen, schreiben Sie. Genau so ist es ja. Aber die meisten Menschen fürchten sich davor und meinen, dass sie bessere Menschen sind, wenn sie sich belügen. Warum ist es so? Weil wir als Kinder lernen mussten, dass die Wahrheit (der Zorn zum Beispiel) gefährlich ist und dass wir Gott besser gefallen, wenn wir die wahren Gefühle abtöten und uns andere, künstliche, vormachen? Und das nennen wir “Verantwortung”?

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet