Sinnlose Therapieausbildung

Sinnlose Therapieausbildung
Saturday 14 March 2009

Liebe Alice Miller,

ich las den Leserbrief „Wozu Missionieren?“ und Ihre Antwort sprach
mir aus dem Herzen und ich bin beeindruckt wie stimmig das ist, was Sie dazu
schreiben.
Es ist die Ohnmacht, die diese Therapeutin beschreibt, die Ohnmacht den eigenen
Eltern nicht helfen zu können, es immer und immer wieder zu versuchen, sie
retten zu wollen, ihnen was zu erklären, es bzw. sich verständlich zu machen,
und JEDES MAL zu scheitern, nie „Erfolg“ zu haben.

Ich habe das selbst bis zum Exzess getan, dieses Helfen, dieses Missionieren,
immer bei meinen Eltern und dann die ganze Welt, die Welt retten, die Menschen
retten, helfen und helfen und IMMER scheitern.
Ich habe verstanden und gefühlt, dass immer dieser tiefe Wunsch/Bedürfnis
dahinter gesteckt hat, von meinen Eltern VERSTANDEN zu werden, von meinen Eltern
als RICHTIG eingestuft zu werden und als gut.
Als ich bei den Zeugen Jehovas missionieren ging, nahm ich schon mit knapp 10
Jahren ein „Gebiet“ an, was bedeutete in meiner Heimatstadt ungefähr
300 Leuten regelmäßig „die Botschaft näher zu bringen“. Ich war in
gewisser Weise „verantwortlich“ für diese Seelen. Es ging darum dass
ich JEDEN erreichen musste, damit dieser von der „guten Botschaft“
erfährt und dann gerettet werden kann. Ich war auch schuldig, wenn ich die
Menschen nicht erreichte, dann habe ICH versagt. Also ging ich mehrmals in der
Woche, nach der Schule und vor allem am Samstag in den „Predigdienst“
in mein Gebiet und schrieb auf, mit wem ich sprechen konnte, und wer nichts
wissen wollte und wer nicht da war. Ich war aufgefordert die Menschen die nicht
zu erreichen waren, wieder zu besuchen. Solange, bis endlich jemand da war. Es
reichte auch nicht, einfach nur kurz vorzusprechen, nein, ich sollte versuchen,
sie in ein längeres Gespräch zu verwickeln, ihnen Bücher und Zeitschriften
zurückzulassen…

Ich möchte das nur kurz schildern, denn es verfolgte mich noch lange danach.
Der hoffnungslose Versuch MENSCHEN zu retten. Wenn jemand nicht will, hat es
keinen Sinn. Es kann dauern, oder es passiert nie, dass dieser Mensch den Mut
hat, oder seinen Ängsten begegnen will. Ich bin dessen so überdrüssig und ich
wehre mich dagegen Verantwortung für andere zu übernehmen. Ich kann diese Dame
gut verstehen, aber bei mir war es immer das tiefe Bestreben von meinen Eltern
endlich verstanden zu werden, endlich Erfolg zu haben in meinen Bemühungen
Klarheit und Gesundheit rüber zu bringen.

Als ich diesen Brief las, fühlte ich mit dieser Frau, ich kann mir wirklich
vorstellen wie es ihr geht. Es ist schmerzhaft und man rennt gegen Mauern, aber
man wiederholt das selbe Spiel: Rette deine Eltern! Mach sie klar! Mach sie
gesund! Zeig ihnen was richtig ist…. Es ist ein hoffnungsloses Unterfangen.
Entsetzlich!

Wie viel mehr Sinn es doch macht, sich mit Menschen zusammenzusetzen die ihre
eigene Geschichte wissen wollen und die Mut mitbringen. Es ginge doch um ein
vielfaches leichter!

Das musste ich Ihnen kurz schreiben, vielleicht können sie es ja der Dame
weiterleiten?

Ich grüße Sie ganz herzlich und möchte mich vielmals bedanken für Ihre
Antwort auf meinen Brief, RR

AM: Zu lesen, wie man Sie zum Missionieren, zur Verbreitung von Lügen, Ängsten und Schwachsinn gezwungen hat, ist herzzerreissend. Aber Ihre Mitteilungen sind so erhellend, weil Sie einige der Wenigen sind, die dies durchschauen und sich von diesem Gefängnis befreien konnten. Gerade an Ihrem Beispiel lässt sich so klar erkennen, wie stark die Sehnsucht nach der verbotenen Wahrheit trotz aller Unterdrückung bleiben kann. Leider wird sie in allen möglichen Erziehungen unterdrückt, die oft panische Ängste hinterlassen und so eine lebenslängliche Versklavung erzeugen. Weshalb ist es den einen wenigen möglich, sich von dieser Angst schrittweise zu befreien, und den meisten nicht, lässt sich vermutlich nur in Einzelfällen klären. Ich meine, dass die Anwesenheit eines helfenden Zeugen entscheidend war, auch wenn man sich nicht an ihn erinnern kann. Was den von Ihnen erwähnten Leserbrief betrifft, so habe ich ihn publiziert, um unter anderem zu zeigen, weshalb ich keine Ausbildung der Therapeuten anbieten konnte, noch kann. Wenn sie mit dem, was ich schreibe, nichts für ihr EIGENES Leben anfangen können, hat es keinen Sinn, ihnen ein „Know-how“ zu vermitteln. Bezeichnenderweise wurde meine Antwort auf diesen Brief von der Schreiberin durchwegs missverstanden, und die Frage nach der eigenen Geschichte blieb bei ihr aus.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet