Das innere Kind von Schuldgefühlen befreien

Das innere Kind von Schuldgefühlen befreien
Friday 21 April 2006

sehr geehrte frau miller

durch meine mutter habe ich ihre bücher kennengelernt und zum teil auch gelesen. ich bewundere ihre recherchearbeit und analyse! sie schaffen bewusstsein. nach der lektüre frage ich mich immer: was ist heilsam? was kommt nach dem bewusstsein? oder heilt schon das bewusstsein?

eine form von misshandlung, eine passive form, habe ich in ihren büchern vermisst: natürlich ist es die, von der ich selbst betroffen bin und die sich noch in mein erwachsenenleben hineinstreckt. über die, die ich viel bewusstsein habe und mich dennoch nicht “geheilt” fühle.

meine eltern sind beide alkoholiker und ich behaupte dadurch eine seelische misshandlung erlebt zu haben.
sie haben mich niemals geschlagen oder eingesperrt oder sexuell missbraucht oder mir was aufgezwungen. sie waren eltern die es gut meinten…
die anwesenheit der sucht hat mich misshandelt.
mit ihrer art, ihrem dasein als süchtige, wenn sie es auch immer versteckt und verlogen haben, damit haben sie mich misshandelt. sie haben mich nicht wahrgenommen. sie haben in ihrem rausch meine bauchschmerzen nicht wahrgenommen, ich habe geweint und sie haben mich wälzen lassen auf dem boden, verwickelt in ihre berauschten erwachsenendiskussionen….am tag danach haben sie sich geschämt dafür, wenn sie es nicht vergessen hatten.
nein, sie haben mich nicht vernachlässigt. es ist das gefühl, weniger wichtig gewesen zu sein, weniger wichtig als ihr bedürfnis sich zu benebeln.
es ist die liebe, die man sucht als kind. sie haben mich geliebt, was habe ich denn für ein problem? das frage ich mich immerwieder. dennoch ich fühle mich missbraucht und ich fühle wut. was ist denn los? es gibt keine perfekten eltern. die sucht gehört eben zu ihnen.

es ist ein missbrauch, wenn sich die betrunkene mutter an der schulter ihrer (sich schlafend stellenden) tochter ausweint. es ist nicht richtig. die kinder sind nicht dazuda die probleme der erwachsenen aufzunehmen.

eltern die es gut meinen, eltern, die viel wissen über psychologie, die das bewusstsein haben, dass es nicht richtig ist. was ist mit all denen? es sind nicht nur die bösen selbst geschlagenen die misshandeln, oder die perfekten, die ihre kinder mit ihrem eigenen zwängen plagen. nein, es gibt auch die, die ihre bücher lesen, die die schläger und missbraucher verurteilen, die es wissen, dass es falsch ist und es dennoch tun, einfach anders, passiv.

ich hatte keinen platz im leben meiner eltern. ich bin ein wunschkind… dennoch ich hatte keinen platz.
die sucht liess mir keinen platz, durch sie fühlte ich mich verdrängt. es nützte nichts alle weinflaschen auszuleeren!
noch heute, ich habe keine chance mit dem thema. meine mutter verleugnet ihre sucht und wenn ich sie konfrontiere, beschimpft sie mich als selbstgerecht. ich selbst empfinde es als ein wunder, trinke ich nicht auch, es wäre so naheliegend es selbst zu tun, soviel einfacher sich zu benebeln als klar hinzusehen und den schmerz zu spüren. mitgehen in der abwärtsspirale der opfer… meine mutter findet, ich sei so gut rausgekommen und natürlich schreibt sie das ihrer wertschätzenden, freilassenden “nicht-erziehung” zu. sie weiss nicht was sie getan hat oder eben unterlassen hat, sie weiss nichts von ihrem missbrauch, sie hat alles vergessen und verdrängt oder sich entschuldigt.
ich verstehe mich gut mit meiner mutter von morgens 9 bis um 15 uhr. ich liebe sie wenn sie klar ist. ich liebe sie, bis sie anfängt ihr ich zuzuschütten. ich fühle mich betrogen um eine klare mutter. warum hatte und habe ich nicht das recht auf eine klare mich voll wahrnehmende mutter? und zugleich schäme ich mich dafür, dass ich sie verurteile, dass ich sie nicht einfach liebe, so wie sie ist, mit all ihren schwächen. ich urteile und schränke meine liebe ein.

das ist die erste und einzige klage, die ich je ausgesprochen oder geschrieben habe. ich wollte und will nicht anklagen. ich denke immer: sie können nichts dafür, sie haben ein schweres schicksal, so schwer, dass sie es nicht ausgehalten haben und sich betrinken mussten. ich denke immer, ich bin erwachsen und drüberhinweg, ich habe es angeschaut und analysiert, was passiert ist mit mir. doch dann spüre ich wieder, was ich erlebt habe, was wunden gerissen hat, was mich schreien lässt innerlich: die angst um den verlust, die suche nach liebe und geborgenheit, nach sicherheit, die schwere um das glück, das hätte da sein können aber nicht ist. es ist mein inneres kind das weint.

vielleicht ist es auch das gefühl versagt zu haben, versagt im sinne von zuwenig bezaubernd gewesen zu sein um sie vom trinken abzuhalten. natürlich weiss ich, dass das nicht so ist, ich bin so bewusst, ich weiss, dass ich nicht verantwortlich bin für das schicksal meiner eltern. dieses bewusstsein heilt mich nicht, es lindert.
was kommt nach dem bewusstsein?
was kann ich tun, ausser die klage, das weinen des inneren kindes wahrzunehmen und zu integrieren, als einen teil von mir?

s.g.

AM: Ihr Brief ist so erschütternd, weil er so klar das ausspricht, was viele empfinden, aber nicht auszusprechen wagen. Sie fragen am Schluß: “was kann ich tun, ausser die klage, das weinen des inneren kindes wahrzunehmen und zu integrieren, als einen teil von mir?” Vielleicht wird meine Antwort Sie schockieren, aber ich kann Ihnen nur so antworten, wie ich denke: Es genügt nicht, das weinende Kind wahrzunehmen, solange man immer noch die Eltern “liebt”, die sein Leiden verursachten. Die meisten Menschen beschuldigen sich für das grausame Verhalten ihrer Eltern, an denen sie liebevoll hängen. Damit verraten sie das weinende Kind und liefern es den Eltern lebenslänglich aus, statt es von den Eltern wegzubringen und ihm so Sicherheit zu geben. Lesen Sie meine letzten drei Artikel auf dieser Website, das könnte Ihnen helfen, Ihre Wut ernst zu nehmen und deren Berechtigung voll zu verstehen. Sie waren NIE und sind es auch jetzt nicht für die Sucht und das Ausweichen Ihrer Eltern schuldig! NIEMALS! Versuchen Sie, das innere Kind von den Schuldgefühlen zu befreien, die man ihm aufgebürdet hat. Es war nicht die Verantwortung des Kindes, die Eltern zu verändern; nur sie selbst können es tun, wenn sie wollen.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet