Offene Briefe an die Eltern
Sunday 09 October 2005
Sehr geehrte Frau Miller,
ich habe Ihr gesamtes Werk gelesen – einschliesslich vergriffener Veröffentlichungen, die ich mir übers Internet besorgt habe. Wie Sie wissen, stösst Ihr so wichtiges Werk in Frankreich aufgrund der hier herrschenden „Diktatur“ der Psychoanalyse einerseits und der jüdisch-christlichen Moral andererseits leider auf kein gebührendes Echo.
Als ehemaliger Krankenhauspsychiater i.R. habe ich an der „Ecole Parisienne de Gestalt“ eine Gestalttherapie-Ausbildung absolviert. Nachdem ich Ihre Werke gelesen hatte, sind mir mein instinktives Misstrauen und meine Ablehnung von Freud’s Theorie des polymorphen, perversen Kindes klargeworden. Wie alle Gestalt-therapeuten habe ich bis zum heutigen Tage zahlreichen von der Psychoanalyse enttäuschten Patienten geholfen.
Nach Veröffentlichung meiner Memoiren zur Überwindung meiner eigenen Kindheitstraumen arbeite ich z. Zt. an einem neuen Werk, in dem ich alle diejenigen, die sich mit ihren Kindheitstraumen beschäftigen, im Rahmen von „offenen Briefen an ihre Eltern“ zu Wort kommen lasse. Die in diesen intimen Briefen erkennbare Authentizität und Gewalt dürften wohl niemanden unberührt lassen und hoffentlich zu der so schwierigen Erkenntnis beitragen, dass Eltern sehr wohl Unheil anrichten können, die transgenerationelle Pathologie jedoch nicht unheilbar ist.
Das Manuskript dieses Werkes, das eindeutig Parallelen zu den Ihrigen aufzeigt, habe ich an den für Ihre Veröffentlichungen in Frankreich zuständigen Verlag Flammarion weitergeleitet in der Hoffnung auf ein positives Echo.
Ein Erfahrungsaustausch zwischen uns beiden scheint mir hochinteressant, und ich würde mich nach Möglichkeit gern einmal mit Ihnen treffen. Obwohl ich im Gymnasium Deutsch gelernt habe, spreche ich heute allerdings kein Wort mehr, da mich Hitlers Reden als Kind total abgeschreckt haben.
Aus diesem Grunde habe ich eine Freundin um Übersetzung dieses Schreibens gebeten, die dann auch gern die Übersetzung Ihrer eventuellen Antwort übernehmen wird, über die ich mich sehr freuen würde und für die ich mich bereits im voraus recht herzlich bedanken möchte.
A propos Übersetzung: in „La connaissance interdite (Aubier, März 2002) lese ich auf Seite 160 : « J’ai connu le cas de perversion extrême à composantes sexuelles, sadiques et religieuses qu’un père fit subir en secret à sa fille pendant des années. Lorsque la chose fut dévoilée à la suite d’une tentative de suicide de la fille, le père nia toute culpabilité. » Meiner Meinung nach trifft die Übersetzung nicht ganz zu: „sentiment de culpabilité“ oder „responsabilité“ wäre treffender gewesen. Dabei fällt mir eine junge Verlegerin ein, die mein Buch unter dem Vorwand ablehnte, dass die Gefahr bestünde, bei gewissen Eltern Schuldgefühle hervorzurufen, wobei es in Wirklichkeit darum geht, ihnen ihre Verantwortung bewusst zu machen.
Bitte nehmen Sie abschliessend meine Glückwünsche und meinen herzlichsten Dank für Ihr gesamtes Werk entgegen, dessen ständig weitere Bekanntmachung mir am Herzen liegt, da es vielen leidenden Menschen wertvolle Hilfe bringt.
Mit freundlichen Grüssen
AM: Es ist sehr schwer, sich Gehör zu verschaffen, wenn man zeigt und sogar beweisen kann, wie viele Eltern das Leben ihrer Kinder ruinieren. diese Erfahrung mache ich fast täglich, aber es ist nun mal die Realität, die wir nicht ändern werden, solange wir uns scheuen, sie aufzuzeigen. Ich wünsche ihnen daher offene Ohren und Erfolg beim Suchen eines klugen Verlegers.
Haben sie schon einmal daran gedacht, eine Website zu eröffnen, unter dem Titel: Briefe an die Eltern? Das ist noch gar nicht vorhanden im Internet, und wenn sie diese Briefe mit einem mutigen Kommentar begleiten, dann könnte dies eine große Ermutigung für viele ehemalige Opfer bedeuten. In das französische Forum „notre enfance“ wagen sich noch sehr wenige Leute. Die Angst vor den Eltern muss auch in Frankreich, bis ins hohe Alter, enorm sein.