Woher kamen die Ängste?

Woher kamen die Ängste?
Thursday 02 April 2009

Sehr geehrte Frau Miller,

ich bin 21 Jahre alt und habe vor einer guten Woche eine mehrjährige, offensichtlich funktionierende und offensichtlich glückliche Beziehung beendet.
Auf die Frage hin, warum ich sie beendete blieben mir selbst die Antworten aus, ich hatte lediglich ein unbestimmtes Gefühl der Eingeschränktheit, der Anhängigkeit und der Unterdrückung meiner Selbst.
Ich blieb meiner Exfreundin so dieser Antworten schuldig, vor allem aber mir selbst. Sie tat es unter der Rubrik “du liebst mich einfach nicht mehr” ab, doch das war nicht das, was ich fühlte, das war nicht die Wahrheit, doch alles, was dahin führte blieb mir verborgen.
Am gestrigen Tag hielt ich die Buchbestellung einer Kundin in der Hand, es war ihr Titel “Das Drama des begabten Kindes” und da ich mich sehr für Soziologie, Psychologie usw. interessiere, las ich es einfach mal an.
Es war ein Glücksfall.
Ich habe es heute fast bis zum Ende gelesen und die Kundin muss leider bis morgen auf dieses Buch warten.
Es ist erschreckend, dass jemand, der mich nicht kennt, doch soviel über mich weiß.
Ich könnte mich für den persönlichen Wahrheitsgehalt des Buches verbürgen, könnte jeden einzelnen Satz unterschreiben.
Und es brachte Licht, Licht in meine Vergangenheit, Licht in den Zustand, dass ich meine Kindheit bis jetzt immer nur als Faktenwissen wahr nahm, als würde ich die Kindheit eines anderen betrachten, ich konnte nun einordnen, wo das Gefühl des Unerfüllten, der Unterdrückung in der Beziehung durch mich selbst herkamen.
Ich buhlte mit der Verleugnung meiner Gefühle und mit dem Einschränken meiner Bedürfnisse fast bis zum Nullpunkt um die Liebe meiner Partnerin, wie ich es bei meiner sehr ignoranten Mutter ebenfalls getan habe.
Nur durch Anpassung bekomme ich, was ich will, Zuneigung und Aufmerksamkeit und jeden Tag stand ich mit der existenziellen Angst auf, die sie beschreiben, der Zuneigung meiner Freundin verlustig zu werden, wenn ich etwas falsch mache. Nie streiten, nie die Meinung sagen, nie seinen Bedürfnissen nachgehen, jeden Schritt, jedes Wort, jede Tat bedenken, denn sonst ist sie weg.
Dass das völliger Unsinn war, wollte sie mir klar machen, aber ich hatte keine Einsicht in die Gründe meines Verhaltens und so redete ich irgendwann gar nicht mehr über solche Sachen mit ihr, aus Angst “ihren” (eigentlich meinen) Erwartungen nicht mehr gerecht zu werden.
Gleichzeitig suchte ich nach einer vollkommenen, absoluten, bis zur Selbstaufgabe gehenden Liebesbeziehung, die es in dieser Form wohl nirgends gibt und das Gefühl sagte mir, dass ich allein Schuld bin, wenn ich diese nicht finde.
In diesem Buch stehen Sachen, die mir offensichtlicher nicht sein könnten und als Wissen vielleicht irgendwo in meinem Gedächtnis rumlagen, auf dich ich aber nicht für mich zugreifen konnte, sie nicht produktiv verwenden konnte.
Eine Sache fand ich ganz bezeichnend, dazu möchte ich kurz etwas schreiben:
Zitat aus ihrem Buch; “Ich komme mir so lächerlich vor, als ob ich an eine Wand gesprochen und gewartet hätte, daß sie mir antworten würde, wie ein dummes Kind.” Ich fragte: “Würden Sie lachen, wenn Sie ein Kind sähen, das seinen Kummer einer Wand anvertrauen muß, weil niemand anderer da ist?”
Daraufhin schluchzte die Patientin verzweifelt.
Ich selbst konnte bei mir exakt die gleiche Reaktion beobachten, Tränen stiegen mir in die Augen, meine Kehle war wie zugeschnürt.
Ich unterdrückte das Schluchzen, da ich im Bus saß. Ich unterdrückte das Gefühl und was folgte, war Leere und Kälte.
Von meiner Familie (Alleinerziehende Mutter, ihre Eltern) auf´s Beste konditioniert, hatte ich sofort den Gedanken:”Was sollen denn die Leute denken?”
Ein Standardspruch im Reportoir meiner Großeltern, den ich auch heute noch bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit um die Ohren gehauen bekomme.
Ich merke, wie es mir immer wieder in die Kehle steigt und durch einen Mechanismus unterdrückt wird.
Ich bin verängstigt, wütend auf mich selbst und unendlich traurig.
Und nachdem dieser, ich sage mal, Erkenntniskanal nur ein klein wenig geöffnet ist, hört es nicht mehr auf, es geht so schnell und mich einer solch gewaltigen Masse, wie mir Erlebnisse und Ängste in den Sinn kommen, dass ich sie weder alle denken, noch aufschreiben kann.
Alles, diese Außenperspektive, mir der ich meine Kindheit betrachte, meine fast panische Angst vor Kindern, meine geringe Frustrationstoleranz bei Kindergeräuschen, all die Tränen, die nicht fließen sind nur der Anfang, aber nachdem ich auch nur einen Bruchteil zuordnen kann, fähig bin, endlich Worte dafür zu finden ist es schon wie eine Befreiung.

Herzliche und dankbare Grüße, RK

AM: Ich war sehr berührt von Ihrem Brief, er zeigt sehr viel Offenheit, Mut und irgendwie auch Weisheit, die in Ihrem Alter sonst kaum anzutreffen sind. Sie haben sich erlaubt zu fühlen, und entdeckten dabei, dass das, was Sie in Ihrer Ex-Beziehung befürchteten, Ihnen bereits früher passiert ist, ohne dass Sie es je geahnt haben. Vielleicht werden Sie auch meine letzten Bücher lesen und von Ihnen profitieren, wenn nicht jetzt, dann möglicherweise später einmal. Dann werden Sie verstehen, woher Ihre Angst und Ihr Misstrauen kommen, und werden sich davon befreien.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet