Wie sag ich’s meiner Tocher?

Wie sag ich’s meiner Tocher?
Saturday 03 March 2007

Liebe Alice Miller,
Kurz nach der Geburt unserer Tochter (5Jahre) habe ich (38) den Kontakt zu meiner Mutter, die mich physisch und psychisch misshandelt hat abgebrochen 1#. Ich selbst bin froh darüber, dass es so gekommen ist, aber seit meine Tochter in den Kindergarten geht, hat sie angefangen sich nach ihrer Großmutter zu erkundigen. Ich habe ihr spontan ehrlich geantwortet, dass ihre Oma in der nächstgelegenen Stadt wohnt, dass ich sie aber nicht sehen möchte weil sie sehr böse zu mir war (dass sie mich geschlagen und gedemütigt hat z.B. Du bist dumm, hässlich, lebensuntüchtig etc.). Meine Tochter hat darauf verständnisvoll reagiert, aber mein Vater, seine Lebensgefährtin, sowie andere Verwandte und Bekannte werfen mir vor dass ich meine Tochter gegen ihre Oma beeinflusse 2#. Sie sagen ein Kind habe ein Recht auf seine Großmutter und diese auf ihre Enkelin.
Mein Mann, der mein wissender Zeuge ist, und sehr zu mir hält, würde, wenn es der Wunsch unserer Tochter wäre, mit ihr zu meiner Mutter gehen. Dies war bis jetzt nicht der Fall obwohl wir ihr versichert haben, dass ihr kein Leid geschehen könne, im Gegenteil, sie würde wohl besonders umworben. Trotzdem bin ich verunsichert, ob es richtig war wie ich reagiert habe und wenn nicht, – was hätte ich sonst tun oder sagen sollen? Wie soll ich meiner Tochter denn später erklären warum ich an Depressionen leide und oft krank und erschöpft bin?
Oder füge ich meiner Tochter Schaden zu indem ich „Schlechtes“ über ihre Oma sage? Darf und muss ich meinem Kind gegenüber nicht offen und ehrlich sein, oder muss ich, meinem Kind zuliebe den Kontakt suchen, obwohl ich weiß, dass auch meiner Mutter in Wahrheit nicht allzu viel daran liegt, da sie Kinder nicht ausstehen kann ( plärrendes Ungeziefer). Ich denke sie will nur ein „normales“ Bild in der Öffentlichkeit abgeben und bearbeitet Verwandte und Bekannte mir doch ein schlechtes Gewissen zu machen. Zudem weiß ich aus meinem Freundeskreis, dass Menschen, die ihre eigenen Kinder misshandelt haben, durchaus passable oder sogar besonders liebevolle Großeltern sein können. Wie das zusammenpasst würde mich am Rande auch interessieren. Über eine Antwort von ihnen würde ich mich sehr freuen, denn ich bin nun echt verunsichert. Vielen Dank für Ihren unermüdlichen Einsatz zugunsten der Rechte der Kinder.
Alles Gute für Sie und ihr Team, ihre T.

Ich (Ehemann) möchte mir noch einige Anmerkungen zum besseren Verständnis erlauben:
Zu 1#. Eigentlich hat die Schwiegermutter den Kontakt nach einer (berechtigten) Zurechtweisung seitens meiner Frau mit den Worten „Du wirst noch nach mir suchen!“ abgebrochen. Wir sind ihr aber nicht wirklich böse J.
Zu 2#. Niemand hat jedoch der Schwiegermutter untersagt, den Kontakt zu uns zu suchen. Offensichtlich liegt ihr mehr daran dass ihre Tochter reumütig zu Kreuze gekrochen kommt als an ihrer Enkelin. Bleibt die Frage wie unsere kleine Tochter lernen soll sich gegen Unverschämtheiten und Übergriffen zur Wehr zu setzen, wenn nicht am Vorbild ihrer Eltern. Auch ich danke Ihnen für Ihre Arbeit, ich denke sie ist bitter notwendig.
Grüsse, R.

AM: Sie haben ja bereits das Richtige getan: haben Ihrer kleinen Tochter die Wahrheit gesagt und sie hat Sie verstanden. Das wundert mich nicht, denn meistens verstehen die Kinder ohne weiteres, wenn man ihnen die Wahrheit sagt – anders als die Erwachsenen, die im konventionellen Denken befangen sind. Diese Leute verunsichern Sie jetzt mit ihren so gut bekannten Argumenten (“jedes Kind braucht eine Großmutter” – weshalb eigentlich? müsste man fragen). Zu dieser Verunsicherung gesellt sich vielleicht noch Ihr Wunsch, dass Ihre Mutter wenigstens Ihr Kind liebt, wenn sie schon Sie nicht lieben konnte. Solche Hoffnungen sind durchaus verständlich, aber führen nicht selten dazu, dass eine Mutter ihr Kind genau diesem Großvater anvertraut, bei dem größtes Mistrauen angebracht gewesen wäre, und später über den Missbrauch ihres Kindes entsetzt ist. Dabei wäre alles voraussehbar, wenn die Illusion nicht so stark gewesen wäre. Es KANN gut gehen, aber das Risiko ist zu groß, als dass es sich lohnen würde, mit dem Schicksal zu experimentieren. Bleiben Sie bei Ihrem ursprünglichen Gefühl; dieses Gefühl und die Antwort Ihrer Tochter sollten Ihre Wegweiser sein und nicht das, was MAN gewöhnlich denkt.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet