Wo ist die Logik?

Wo ist die Logik?
Thursday 18 May 2006

Danke für Ihre rasche Antwort,

jedoch muss ich etwas richtig stellen! Ich wurde nie körperlich misshandelt! Die Erfahrungen die ich bis jetzt gemacht habe sind sehr komplex und so verwirrend, sodass ich darum bemüht bin, sie zu entwirren. Was ich auf meinem Weg der „Entwirrung“ verblüffender Weise entdeckt habe, ist, dass ich mich/ meine Gefühle in psychologischen Schriften wie ihren, wieder finde. Obwohl ich nie misshandelt oder missbraucht wurde, habe ich Träume/ Phantasien/ Vorstellungen von einem Jungen der misshandelt, vernachlässigt und ignoriert wird. Man könnte jetzt sagen, dass ich doch misshandelt wurde, diese Erfahrungen verdrängt habe und mich deshalb nicht an sie erinnere. Das ist aber sehr unwahrscheinlich.
Was mich verblüfft sind die Ähnlichkeiten der Gefühlsmäßigkeiten von misshandelten, missbrauchten, vernachlässigten und ignorierten Kindern. Das schlimmste für diese Kinder sind oftmals nicht die Schläge selbst, sondern die Tatsache, dass die Menschen, die ihnen eigentlich am nächsten stehen sollten, von denen sie eigentlich Liebe, Schutz und Geborgenheit erfahren müssten, also ihre Eltern, sie abweisen, demütigen und sie damit seelisch sehr verletzen. Ich wurde von Menschen, die mir eigentlich nahe stehen müssten (Familie) oft seelisch verletzt, nicht durch Schläge, sondern durch Worte. Wobei man eventuell von seelischer Misshandlung sprechen könnte (natürlich sind diesen Menschen ihre verletzenden Worte mir gegenüber nicht bewusst, wenn man sie damit konfrontiert). Ich habe einige Verluste und viele Enttäuschungen hinnehmen müssen. Ich würde z.B. gerne wissen, wie man erst ein Kind in die Welt setzen und sich dann tot saufen kann, wie es meine Mutter getan hat. Wenn ich meinen Alkoholikervater frage, warum er nie die Verantwortung für mich übernommen hat, antwortet er: „Die Umstände waren Schuld.“ oder „Ich durfte nicht.“ Damit gebe ich mich nicht zu frieden. So etwas macht mich wütend. Meine Eltern haben mir ein reines Chaos hinterlassen, womit ich jetzt irgendwie klar kommen muss und das macht mich wütend. Dass es Eltern gibt, die ihre Kinder schlagen, macht mich wütend. Dass es Eltern gibt die ihre Kinder beschimpfen, macht mich wütend. Doch statt destruktiv mit meiner Wut umzugehen, also Sachgegenstände zu zerstören, andere Menschen zu verprügeln oder mich mit Alkohol ruhig zu stellen, wie es viele tun, versuche ich konstruktiv damit umzugehen, indem ich eben versuche über Folgen von Gewalt aufzuklären oder mich für benachteiligte Jugendliche/ Menschen einsetze. Ich wünsche mir einfach Kontakt zu Menschen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben, die verstehen was ich meine, wenn ich sage, es ist verdammt beängstigend, wenn der eigene Vater alkoholisiert vor einem steht und sagt, dass er einen irgendwann umbringt und einem dann Vorwürfe macht, weil man ihm aus dem Weg geht. Ich habe viele groteske und äußerst destruktive Verhaltensweisen von Erwachsenen kennen gelernt und muss leider mit ansehen, dass viele junge Menschen diese Verhaltensweisen übernehmen ohne sie zu hinterfragen. Genau das macht mir Sorgen! Weil sie sich, ihre Umgebung, die Gesellschaft damit schädigen ohne es zu merken und sich dann darüber beschweren, dass sie unglücklich sind und sie sich in dieser Welt nicht wohl fühlen.
Wo ist die Logik in diesem Verhalten?

J.J.

AM: Die Logik ist klar; sie besteht in der Schonung der Eltern, der Bagatellisierung ihrer Grausamkeit und der Verleugnung der eigenen wahren Gefühle, sowie des eigenen Wissens. Um jeden Preis. Was muss denn ein Vater noch sagen als „Ich bringe dich mal um“, damit sich die Tochter als misshandelt bezeichnen darf?

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