Was tun, wenn ein helfender Zeuge fehlt?
Monday 15 October 2007
Liebe Frau Miller,
erst vor wenigen Monaten habe ich Ihre Website entdeckt. Seit dem verfolge ich – soweit es meine Zeit am Arbeitsplatz zulässt, da ich zu Hause keinen Internetzugang habe – die neu erscheinenden Briefe und Berichte Ihrer Leser. Obwohl ich weiß, dass mein Schicksal bei weitem kein Einzelfall ist, bin ich zutiefst berührt und erschüttert über die vielen Berichte dieser einstmals zum Teil bestialisch gequälten Kinder, das kann ich gar nicht in Worte fassen.
Vieles in diesen Berichten hätte ich selbst nicht besser beschreiben und ausdrücken können. So vieles in diesen Berichten fühlt sich in meinem Bauch als etwas mir sehr Bekanntes an.
Liebe Frau Miller, Sie betonen immer wieder, dass eine Heilung nur mit Hilfe eines helfenden Zeugen möglich ist. Was aber, wenn sich dieser Zeuge nicht finden lässt? Und so wie mir geht es offensichtlich so vielen anderen Menschen auch.
Ich denke, ich habe die Palette der Misshandlungen so ziemlich durch, da fehlt kaum noch etwas. Sexueller Missbrauch im Kleinkindalter durch Verwandte und später noch einmal durch einen im gleichen Ort lebenden Unhold; offene Ablehnung durch beide Elternteile; verbale Gewalt sowie körperliche Züchtigung, soweit ich zurückdenken kann, auch durch beide; Ausnutzung als billige Haushaltshilfe; Funktion als Mutterersatz gegenüber meinen Geschwistern, wenn meine Mutter meinen Vater mal wieder für eine Weile verlassen hatte.
Später benutzte mich meine Mutter als Vertraute und weinte sich bei mir aus. Das verbesserte aber keinesfalls ihr Verständnis mir gegenüber. Sie sprach bis zu 7 Tage nicht mit mir, wenn ich frech zu ihr war (ich litt darunter wie eine angestochene Sau und kam immer wieder bettelnd zu ihr angekrochen).
Mein Vater bezeichnete mich als schwer erziehbar und drohte mir ständig mit dem Erziehungsheim (dabei genügte ein Blick von ihm, und ich parierte wie ein dressierter Hund). Weinen war verboten, mein Vater nannte das Erpressung. Er nannte mich eine Memme. In seinen Augen war ich zu nichts zu gebrauchen versagte ständig. Bedürfnisse hatte ich nicht zu haben. Mein Vater sagte immer: “Gefühle hat man nicht. Und wenn man merkt, man hat doch welche, muss man sie ausmerzen.”
Ich bin die Älteste von insgesamt 5 Kindern. Schon sehr früh habe ich begonnen, zu signalisieren, dass ich das, was mir da vorgeworfen wurde, nicht fressen konnte und nicht fressen wollte.
Im Alter von etwa 3 Jahren fing ich an, mich zu weigern, von meiner Mutter Nahrung anzunehmen (diese Weigerung richtete sich direkt gegen sie, daran kann ich mich genau erinnern). Doch sie ließ mich Tag für Tag am Tisch sitzen und verlangte unbarmherzig, dass ich aufaß. Erst wenn ich das wenige mühsam Heruntergeschluckte – wofür ich in der Regel Stunden brauchte – wieder auf den noch nicht leeren Teller zurückkotzte und nun doch wagte, heftig zu protestieren, weil ich das nicht noch mal essen wollte, ließ meine Mutter von mir ab und nahm den Teller weg, mit bösem Blick und verletzenden Bemerkungen.
Im Alter von 6 Jahren habe ich erstmals daran gedacht, mich umzubringen. Das wusste niemand. Es hätte auch niemanden interessiert. Ich habe es damals nicht getan, weil ich nicht wusste, ob Sterben weh tut, und ich wollte nicht noch mehr Schmerz haben als ich ohnehin hatte.
Als ich ca. 6 oder 7 war, fügte ich völlig unvermittelt einem Nachbarsjungen mit einem Stein eine blutige Wunde am Kopf zu. Meine Mutter war darüber sehr entsetzt und bestürzt (ich auch, ich konnte nicht erklären, warum ich zugeschlagen hatte – damals noch nicht!). Ich bestätigte meiner Mutter damit, dass ich das gleiche Schwein war wie mein Vater, wie sie es auszudrücken pflegte, seit – ich weiß nicht, wann sie damit angefangen hat.
Ich denke, dass sie bei mir schon früh die gleiche unbeherrschte Wut beobachtete wie bei meinem Vater. Ihr gegenüber ließ ich diese Wut auch manchmal raus, wenn mein Vater nicht zugegen war. Sie schlug mich dann zwar, aber ihre Schläge waren zu ertragen. Außerdem konnte ich ein Stück meiner Schuld bei ihr abtragen, wenn ich sie einfach gewähren ließ (ich hatte seinerzeit ein intensives Schuldgefühl ihr gegenüber entwickelt).
Ungefähr im gleichen Alter machte sich in mir der bewusste Drang, weh zu tun, bemerkbar. Es gab da ein kleines Nachbarskätzchen, das war etwas schwächlich, aber besonders lieb und zutraulich. Irgendwann gab ich diesem inneren Drang, zu töten, nach. Ich habe mehrfach versucht, das kleine Kätzchen zu erwürgen. Wenn ich zudrückte, fing das kleine Tierchen zu zappeln an. Ich wusste, was es nun fühlte, es musste Todesängste haben. Die Ängste, die das kleine Tierchen signalisierte, erregten mich, schürten meinen Drang, es zu zerquetschen, machten mich aber dennoch empfänglich für sein Leid, und ich ließ das Kätzchen wieder los. Aber ich versuchte es wieder. Dass das Kätzchen nie Angst vor mir zeigte und immer wieder angelaufen kam, verblüffte mich. Letztlich siegte mein Mitgefühl, von dem ich heute nicht weiß, wo ich es hernahm. Ich gab meiner Lust, das Kätzchen zu quälen, nicht mehr nach.
Dafür ließ ich meine Wut nun manchmal an meinen jüngeren Gechwistern aus, die von meiner Mutter in den Arm genommen und getröstet wurden. Mich nahm niemand in den Arm. Wenn ich auf meine Geschwister losging, wurde ich gehässig genannt, denn damit zeigte ich mein wahres Gesicht.
Dass ich damals auf meine Geschwister eifersüchtig war, habe ich lange Zeit nicht erkannt und mir erst im Erwachsenenalter eingestanden.
Würde mich jemand fragen, was mir als erstes einfällt, wenn ich an meine Kindheit denke, dann würde ich antworten: “KRIEG!” Und ANGST. Grauenvolle ANGST.
Es konnte jederzeit losgehen, es gab nie eine Vorwarnung. Ein Entrinnen vor den Prügeln meines Vaters gab es nie. Einen speziellen Grund dafür brauchte er nicht; er hat einfach “Dampf abgelassen”. Er hieb oder trat wie ein Besessener auf jeden von uns ein, auf uns Kinder sowie auf meine Mutter. Es galt, 24 Stunden am Tag wachsam zu sein. Dieses stetige innere Vorbereitetsein war der einzige Schutz, den ich hatte. Nur so gelang es mir, augenblicklich innerlich total zu verhärten, innen hart zu sein wie Stahl, nicht mehr zu fühlen, wann immer es notwendig war, damit innen nichts kaputt gehen und ich das überstehen konnte.
Das Schlimmste war, dass meine Mutter mir dafür die Verantwortung zuschob. Ich war Schuld an ihrem bzw. unserem Dilemma. Ich war die Älteste, und ich kam ungewollt. Meinetwegen hatte meine Mutter dieses Ungeheuer heiraten müssen, meinetwegen nun musste sie so viel erdulden. Dass auch ich erdulden musste, zudem auch noch ihr Sündenbock war, das hat sie nicht gesehen. An jedem verdammten Scheißtag kam ich innerlich völlig angespannt und auf alles vorbereitet von der Schule nach Hause, weil ich mich erst mal vergewissern musste, ob noch alle lebten (mein Vater arbeitete nicht, er war immer zu Hause). Auch das habe ich allein getragen.
Mit 17 Jahren habe ich mein “Elternhaus” (so bezeichnete es mein Vater) verlassen, obwohl es mir damals großes Unbehagen verursachte, nun keinerlei Kontrolle mehr über das Geschehen zu haben. Die hatte ich ja sowieso nie, aber ich hatte zumindest als Jugendliche das Gefühl, dass meine Anwesenheit als Zeugin meinen Vater in seiner Wut meiner Mutter gegenüber ein wenig bremste.
Als ich wenig später bei einer Situation zugegen war, die mir zeigte, dass ich zu Recht Angst vor allem um meine Mutter haben musste, steigerte das meine Angst ins Unerträgliche. Ich dachte ernsthaft daran, meinen Vater umzubringen. Ich wusste nicht mehr, wie ich die Familie anders hätte schützen können.
Ich habe das nicht in die Tat umsetzen können. Ich bin nicht dazu fähig, einen Mord zu planen und auszuführen. Und als Mord wäre es natürlich dargestellt worden, obwohl ich selbst es als Notwehr bezeichnen möchte.
Heute habe ich zur gesamten Familie keinen Kontakt mehr, weil ich Außenseiterin in der eigenen Familie bin, in der niemand die Dinge so konsequent offen und enthüllend angeht wie ich. Meine Mutter – seit langem von meinem Vater geschieden – wird noch heute (denke ich) von meinen Geschwistern zum Mittelpunkt ihres Lebens gemacht.
Als ich mich letztendlich offen und zum Teil sehr wütend und aggressiv gegen meine Mutter und ihre nie enden wollenden Schuldzuweisungen – u. a. – auflehnte, hatte ich 3 Brüder gegen mich, die sich nicht scheuen würden, mich zu schlagen. Sie ist doch die Mutter! Darauf muss man doch Rücksicht nehmen!
Rückzug ist die einzige Wahl, die ich jemals hatte.
Liebe Frau Miller, Ihre ersten Bücher kenne ich seit Mitte der 80er Jahre, vom “Drama …” bis zu “Der gemiedene Schlüssel”. Es hat noch über 20 weitere Jahre gedauert, bis ich wirklich begriffen habe. Ich bin erst jetzt so weit, dass ich mich der ganzen Wahrheit stellen kann und meine Eltern nicht mehr schützen muss – und das auch gar nicht mehr kann und nicht mehr darf, denn das würde weiterhin auf Kosten meines eigenen Lebens geschehen.
Ich habe damals nur sehr wenig Zeit gebraucht, um zu begreifen, wie sehr mir Unrecht getan wurde und welche verheerenden und auch dramatischen Auswirkungen das auf mein Leben hatte (mehr kann ich in einem Brief nicht schildern). Doch unglücklicherweise habe ich geglaubt, dieses Wissen würde genügen. Es genügte bei weitem nicht. Emotional habe ich meine Verletzungen sowie auch mein eigenes späteres Fehlverhalten (noch vor Kenntnis Ihrer Bücher) nicht verkraftet.
Seit Jahrzehnten nun beobachte ich meine höchst explosive und beißende Wut. Depressionen gehören zu meinem Normalzustand, einen anderen kenne ich nicht. Seit ein paar Jahren habe ich das Gefühl, dass etwas in meinem Inneren nicht mitgewachsen ist. Meine geistige Entwicklung hat meinem Alter entsprechend stattgefunden. Emotional fühle ich mich verkümmert. Ebenfalls seit ein paar Jahren fällt mir so etwas wie ein innerer Zwang zu Fügsamkeit und Gehorsam auf, dem ich – wann immer ich ihn an mir bemerke – mit ohnmächtiger Wut begegne, weil ich mich diesem Zwang nie beugen wollte, weil ich einfach nicht fügsam und gehorsam sein will, dennoch aufgrund meiner Wut ständig Schuldgefühle hatte. Wenn die innere Spannung zu groß wird, kann ich noch heute von einem Moment zum anderen aufhören zu essen. Das kann ich über mehrere Tage, völlig beschwerdefrei, ohne Hungergefühl und ohne irgendeinen Schwächezustand zu empfinden. Lediglich aus Vernunftsgründen fange ich wieder an, mich an Nahrung zu gewöhnen.
Ich hatte mich damit abgefunden, dass mich meine Erziehung “verkorkst” hatte und dass solche Wunden nicht heilen. Unter großen Schmerzen habe ich gelernt, Einsamkeit zu ertragen; das ist die einzige Daseinsform, die ich kenne. Allein einsam zu sein, kann ich bewältigen, zu zweit einsam zu sein, bringt mich um.
Ich konnte nur noch darauf achten, meine Umwelt, so gut es eben ging, vor meiner unbefriedigten Bedürftigkeit und meinem Zorn darüber zu schützen.
Vor gut einem Jahr hörte ich in einer Fernsehsendung – zum ersten Mal bewusst und fähig, es aufzunehmen – etwas über Persönlichkeitsstörungen. Was ich da hörte, erinnerte mich sehr an mich selbst; die meisten der genannten Symptome kamen mir sehr bekannt vor. Seit dem bin ich wie aus einem Dornröschenschlaf erwacht. Ich beschloss, mir für meinen eigenen Heilungsprozess Unterstützung zu suchen und begab mich unverzüglich auf die Odyssee der Therapeutensuche. Was ich dabei erlebte, verstärkte lediglich meine Gefühle von Ohnmacht und Vergeblichkeit, die ich kenne, solange ich denken kann.
Nach diversen Vorgesprächen entschied ich mich zwei Mal für einen Therapiebeginn.
Da ich nicht lange um den heißen Brei herum schleichen, sondern gleich richtig einsteigen wollte, beantwortete ich die Fragebögen der Therapeuten beim ersten Mal in einem 30-seitigen Bericht, beim zweiten Mal in einem 49 Seiten umfassenden Bericht. Ich erzählte zum Teil ausführlich über die prägnantesten Stationen meiner Kindheit sowie über mein späteres Leben. Ich verschwieg nichts.
Die Gespräche in den Sitzungen waren nutzlos für mich. In beiden Fällen fühlte ich mich in die Rolle des kleinen Mädchens zurück gedrängt und reagierte zusehends ablehnend.
Als ich beim 2. Therapieanlauf der Therapeutin sagte, wie leicht mir das Schreiben fällt, ich aber in einem persönlichen Gespräch innerlich erstarre und völlig sprachlos werde, erwiederte sie, ihre Fingernägel betrachtend: “Tja, das ist Ihre Entscheidung.”
Welche Entscheidung? Hörte sie mir eigentlich richtig zu? Ich hatte doch gar keine getroffen, ich suchte händeringend nach einem Anfang! Ich hatte doch genügend Stoff geliefert, warum half sie mir nicht, einen Weg aus der Sprachlosigkeit zu finden?
Ich saß da und überlegte einen Moment, dann traf ich tatsächlich eine Entscheidung. Ich ging.
Ist es wirklich so schwer, einem gepeinigten Menschen zu sagen: “Sie haben Fürchterliches durchmachen müssen, bitte erzählen Sie, ich höre Ihnen zu.” ???
Nichts anderes hatte ich mir erhofft!
Wahrscheinlich sind meine Erfahrungen mit Therapeuten Erfahrungen mit begabten Kindern. Sie alle kennen Ihre Bücher, Frau Miller (ich hatte vorab danach gefragt). Sie alle sind doch auch schon ein Stück des Weges hin zu ihrer eigenen Wahrheit gegangen, warum sonst haben sie diesen Beruf gewählt? Sie alle besuchen doch Supervisionen, da haben sie doch auch Gelegenheit zur Reflexion. Warum gehen sie den Weg nicht bis zum Ende? Weil es immer nur die Eltern der Anderen sind, die unfähig waren, aber – um Himmels Willen! – bloß nicht die eigenen? Solange Therapeuten ihr eigenes inneres verletztes Kind nicht wahrnehmen wollen, hindern sie ihre Patienten/innen, deren Wahrheit zu finden; sie inszenieren Endlos-Dramen, ihre eigenen und die ihrer Patienten/innen!
Die vermeintliche Liebe der eigenen Eltern scheint unantastbar! Lieber zerfetzen wir unseren Nächsten wie uns selbst!
Diese Odyssee ist für mich abgeschlossen. Kritik an ihrer Arbeit kann man Therapeuten nicht zumuten. Aber ich bin empört! Empört darüber, dass ich als einstmals misshandeltes Kind in den Augen der Therapeuten offensichtlich keine ernst zu nehmende gleichwertige Gesprächspartnerin bin, sondern nur die dusselige Patientin, so’n armes geschlagenes Puttchen, das jetzt sowieso “einen an der Waffel” hat! Kann man so eine ernst nehmen, wenn sie sich der Art der Behandlung gegenüber kritisch äußert? Vor allem, wenn sie selbst von sich sagt, den Eindruck zu haben, häufig unangemessen empfindlich zu reagieren?
Meine offenen Worte werden einfach gegen mich verwandt, und ich fühle mich wieder in die Rolle des “unfähigen, dummen” Kindes zurück gedrängt. Ich bin fuchsteufelswild darüber!
Nach den fehlgeschlagenen Therapieversuchen habe ich mich gefragt, wie ich nun weiterleben soll und ob mir denn wirklich nichts anderes als der Freitod übrig bleibt. Aber das kann ich nicht glauben. Ich habe schon zu lange überlebt, ich kann jetzt nicht aufgeben.
Ich machte mich wieder auf die Suche, nach neuen Informationen, auch nach Büchern, und dann dachte ich an Sie, Frau Miller, und daran, dass jemand, der so bekannt ist, eine Website haben könnte. Volltreffer!
Und nun lese ich Ihre in den letzten Jahren erschienenen Bücher. Und das geht nur sehr langsam, weil ich immer wieder innehalten und nachdenken und dann erst mal weinen muss – und zum ersten Mal seit vielen Jahren auch wieder richtig weinen kann. Allmählich wird mir klar, was ich bisher versäumt habe und warum ich mir nie nachhaltig habe helfen können.
Es nützt mir nichts, zu wissen, dass die Kindheitsgeschichte meines Vaters die meinige an Grausamkeit noch übertrifft. Es ist zwar erklärbar, warum meine Eltern keine Liebe für mich empfinden konnten und mir Schmerz zufügten, aber das Wissen, warum das geschehen konnte und mein Mitgefühl über den Schmerz meiner Eltern retten mich nicht. Im Gegenteil, es hat mich 2 Jahrzehnte lang wissend und doch blind durch die Gegend laufen lassen, blind für mich selbst und dafür, dass ich meinen Schmerz und meine Wut durch Verständnis und Vergebung meinen Eltern gegenüber nicht lindern kann. Ich kann und darf es nicht mehr zulassen, die verständnisvolle Mutter meiner Eltern sein zu wollen.
Ich stecke noch mitten in der Lektüre von “Revolte des Körpers”, aber ich denke, die Botschaft bereits verstanden zu haben. Das erkenne ich auch daran, dass ich seit dem erneuten Lesen Ihrer Bücher keinerlei Hilfsmittel wie Medikamente mehr brauche, um meinen Berufsalltag durchzustehen, weil ich eine enorme Entlastung spüre, und das, obwohl mein Körper sich im Moment anfühlt, als hätte ich tagelang ununterbrochen zentnerschwere Säcke über holperige Wege gezerrt. Mein Körper erzählt mir gerade die ganze Wahrheit, und ich bin unbeschreiblich traurig, auch darüber, dass ich ihn so lange habe sprechen hören und ihn zum Teil auch verstand, und dennoch so lange nicht in der Lage war, das Übel an der Wurzel zu packen.
Rückblickend muss ich erkennen, dass ich nie aufgehört habe, nach liebenden Eltern zu suchen. Ich war immer bestrebt, mich mit meinem Schicksal zu versöhnen, egal, was passiert ist. Mir war nicht klar, dass ich nie habe akzeptieren wollen, dass ich etwas entbehre und vermisse, was mir niemand ersetzen kann. Ich wollte das Versäumte mit aller Macht nachholen.
Ich war jahrzehntelang auf der Suche nach Elternersatz, auch in unzähligen sexuellen Abenteuern mit irgendwelchen Männern, in die ich mich verliebt zu haben glaubte, ohne zu begreifen, dass ich meine Sehnsucht nach Liebe mit der Gier nach Sex übertüncht und zu befriedigen versucht habe. Allerdings begann mein Körper vor ein paar Jahren nach sexuellen Kontakten zunehmend mit Depressionen zu reagieren, die unmittelbar nach solchen Kontakten sehr heftig wurden und über meinen Normaldepressivzustand hinausgingen. Diese Signale habe ich sehr ernst genommen; ich lasse mich von Gefühlen der Verliebtheit und von meiner Gier nach Liebe nicht mehr einfach überwältigen.
Über Wut habe ich in den vergangenen Wochen viel gelernt. Vor der Wut kommt die ANGST.
Angst und Wut liegen ganz nah beieinander. Meine unterdrückte Angst schürt meine Wut. Wenn ich die Angst zulassen, sie fühlen kann, entschärft das die Bombe, die in meinem Bauch tickt. Meine Angst durfte ich bisher nicht bewusst wahrnehmen; ich wäre wohl daran gestorben, wenn meine Wut mich nicht geschützt hätte.
Das kleine Mädchen in mir ist unzählige Tode gestorben vor Angst. Diese Angst jetzt bewusst einfach da sein zu lassen, sie nicht mehr einzukerkern in ihren Käfig aus Stahl, kostet mich weniger Kraft, als diese übermenschliche Selbstbeherrschung, die ich Tag für Tag aufbringen musste, um meine Wut im Zaum zu halten.
Wenn ich zu Hause und endlich allein bin, lasse ich mich versinken in meine eigene innere Gefühlswelt. Ich setze mich viel schriftlich auseinander; das tue ich seit Jahren. Aber jetzt beobachte ich aufmerksamer denn je meine inneren Reaktionen auf meine geschriebenen Worte, auf das, was mir mein Körper daraufhin mitteilt. Häufig zittere ich dabei äußerlich ununterbrochen, diese Vibrationen fühle ich bis tief in meinen Bauch hinein; hin und wieder kommen Panikattacken, das überrascht mich nicht; nach Weinen folgt urplötzlich Kichern, bis unvermittelt wieder Traurigkeit und Weinen kommen. Ich komme mir vor wie ein Kind; das Kind, das ich nie sein, das nie fühlen durfte. Für mich ist alles, was jetzt rausdrängt, ok, ich nehme alles an. Ich gehe davon aus, dass noch sehr viel mehr hochkommen wird.
Liebe Frau Miller, ohne Sie als wahrhaft wissende Zeugin und ohne Ihre unermütliche Aufklärungsarbeit hätte ich das alles nicht erkennen können, dessen bin ich mir ganz sicher. Es ist mir ein großes inneres Bedürfnis, Ihnen zu sagen, dass ich Ihnen unendlich dankbar bin.
Aus gegebenem Anlass (Leserbrief vom 5. Oktober 2007, spirituelle “Heiler”) möchte ich Folgendes gern noch hinzufügen.
Die Sehnsucht der Menschen nach Versöhnung kann ich verstehen. Auch für meinen Seelenfrieden war und ist Versöhnung äußerst wichtig. Und Versöhnung mit meinem Leben kann ich erreichen, denn die Zeit der Illusionen und die vergebliche Suche nach Eltern oder Elternersatz sind unwiderruflich vorbei. Versöhnung mit meinen Eltern ist für mein Seelenheil nicht mehr erforderlich. Es ist nicht länger mein Anliegen, in den Augen meiner Eltern als gute Tochter dazustehen. Ich bin die beste Tochter, die sich meine Eltern hätten wünschen können.
Mein Gottesverständnis hat sich nicht durch Nachplappern der Bibelworte oder durch blinden Glauben an sogenannte Erleuchtete entwickelt, sondern weil ich es zulassen konnte, selbständig zu denken und meine eigenen Schlüsse zu ziehen.
Wenn es das Göttliche gibt – und davon bin ich überzeugt – dann freut sich dieses Göttliche jetzt darüber, dass ich endlich verstanden habe und von nun an mein Leben eigenverantwortlich in meine eigenen leitenden und führenden Hände nehme.
Ich übernehme die Mutterschaft für mein eigenes inneres Kind und fordere nicht mehr von meiner Umwelt, dass sie meine unbefriedigte Bedürftigkeit sieht und endlich etwas dagegen unternimmt. Mir ist bewusst, dass ich noch lange daran arbeiten muss, um mir diese völlig neue Sichtweise als etwas Selbstverständliches anzueignen und zu bewahren. Es wird Einiges an Übung erforderlich sein.
Es kann aber nicht sein, dass ich die Einzige bin, die sich auf diesem Weg befindet, das entnehme ich ja auch Ihren Leserbriefen. Deshalb versuche ich, meine Einsiedelei zu überwinden und Menschen für eine Gesprächsgruppe zu finden, zur gegenseitigen Unterstützung und – nicht zuletzt – dafür, damit ich wieder lernen kann, zu sprechen.
Einen Anfang zu finden, fällt mir schwer, aber übersehen oder unterdrücken möchte ich diesen Impuls keinesfalls.
Liebe Frau Miller, ich wünsche Ihnen und Ihrem Team alles, alles Liebe. Mögen noch viele, viele Menschen Ihre Bücher lesen und erwachen.
Mit herzlichen Grüßen und aufrichtigem Dank, A. T.
AM: Ich danke Ihnen sehr herzlich für Ihren offenen und klaren Brief. Was haben Sie alles durchgemacht, immer wieder, immer von neuem, und Sie haben sich nicht zerbrechen lassen, nicht versklaven, nicht blind und gefügig machen lassen. Sie schreiben: „Ein Entrinnen vor den Prügeln meines Vaters gab es nie. Einen speziellen Grund dafür brauchte er nicht; er hat einfach “Dampf abgelassen”. Er hieb oder trat wie ein Besessener auf jeden von uns ein, auf uns Kinder sowie auf meine Mutter. Es galt, 24 Stunden am Tag wachsam zu sein. Dieses stetige innere Vorbereitetsein war der einzige Schutz, den ich hatte. Nur so gelang es mir, augenblicklich innerlich total zu verhärten, innen hart zu sein wie Stahl, nicht mehr zu fühlen, wann immer es notwendig war, damit innen nichts kaputt gehen und ich das überstehen konnte.“
Das ist doch grauenhaft. Trotzdem blieben Sie sich treu und werden sicher eine Gruppe in Ihrer Stadt bilden können. So werden Sie Ihre Einsamkeit überwinden und Menschen aussuchen können, die Ihnen gut tun. Das ist doch eine glänzende Idee. Ich wünsche Ihnen viele gute Begegnungen.