einige Fragen

einige Fragen
Sunday 20 July 2008

Liebe Alice Miller,

ich lese seit ca. 20 Jahren immer wieder fasziniert in Ihren Büchern herum und führe „monologische“ Gespräche mit Ihnen. Erst kürzlich erfuhr ich, dass es die Möglichkeit gibt, mit Ihnen direkt Kontakt aufzunehmen. Ich tue es hiermit, denn ich habe einige Fragen, auf die ich dringend (wirklich dringend) Antworten suche.

1) Wenn man sich seiner eigenen – negativen – Kindheitsgeschichte bewusst geworden ist und auch intellektuell klar benennen kann, warum sich diese wann wie und wo in seinem gegenwärtigen Leben auswirkt… Wenn man die Wut endlich spürt, und zwar massiv… Was dann? Die „Verursacherin“ meiner Schwierigkeiten, die Auslöserin meiner Wut, meine Mutter, lebt noch, ist 86 Jahre alt und auf mich angewiesen. Ich spüre eine solche Wut auf sie, dass ich sie oft nicht ertrage. Aber ich muss mich um sie kümmern, habe regelmäßig Kontakt zu ihr. Die meiste Zeit halte ich mich zurück, bleibe oberflächlich. Aber von Zeit zu Zeit bricht alles heraus – vor allem wenn sie die “alten”, mit wohlbekannten Verhaltensweisen an den Tag legt, und es kommt dann zu massiven Streits. Danach geht es mir noch schlechter als zuvor, da ich Schuldgefühle habe – ich quäle die alte Frau, schade ihr. Wie werde ich mit meiner Wut fertig ohne den Kontakt zu meiner Mutter abzubrechen (was ohnehin unmöglich ist) und ohne sie so zu quälen – was im Endeffekt mich selbst quält?

2) Hört diese Wut jemals auf? Ich trage sie jetzt mein Leben lang mit mir herum und die Gefühle bleiben unverändert intensiv. Überall steht (schreiben Sie), dass das Wahrnehmen und Erleben dieser Gefühle der Schlüssel ist und danach … ja was kommt danach? Ich erlebe diese Gefühle seit über 40 Jahren, ich will sie endlich los sein! Aber ich stecke fest…

3) Wird man jemals die eigenen gegenwärtigen Verhaltensweisen, die man auf Grund der belastenden Kindheitserfahrungen entwickelt hat ändern können? Ich habe konkret von und durch das Verhalten meiner Mutter “gelernt”, daß man niemandem vertrauen darf, weil alle Menschen böse sind und einen verraten. Meine Mutter hat mir das sowohl verbal als auch sehr konkret durch fortgesetzten Verrat an mir beigebracht. Und obwohl ich weiß, auch durch Ihre Schriften weiß, daß das Quatsch ist, bekomme ich doch immer wieder Rückmeldungen in der Art, daß ich ein “negativer”, “extrem-pessimistischer” Mensch wäre, an den man nicht wirklich herankommt. Und ich spüre es ja selbst – es fällt mir extrem schwer, Vertrauen aufzubauen. Und extrem leicht, Menschen, die mich enttäuscht haben, aus meinem Leben radikal auszuschließen. Ich habe sehr viele “Freunde” dadurch verloren und habe manchmal Panik, daß ich völlig vereinsamen werde.

Vielen Dank fürs Lesen, eine Antwort würde mir viel bedeuten. eine Frau, 46 Jahre alt.

AM: Es wundert mich nicht, dass Sie mit einer ständigen Wut im Bauch leben, weil Sie sich und Ihre Mutter belügen. Weshalb tun Sie das? Im Buch “Dein gerettetes Leben” finden Sie das Kapitel über den Hass, wo ich aufzuzeigen versuche, dass man sich vom Hass nur befreien kann, wenn man von der verhassten Person nicht mehr abhängig ist. SIE sind offenbar von Ihrer Mutter abhängig, indem Sie warten, dass sie Sie liebt. Denn Ihre Mutter könnte sich auch von anderen Menschen pflegen lassen, die nicht als Kinder unter ihrer Grausamkeit gelitten haben. Ich kenne eine Frau im gleichen Alter (87), die niemals Besuche von ihren beiden Kindern bekommt, aber weiss, weshalb. Sie hat ein Stück Therapie gemacht und weiss, dass sie ihre Kinder sehr gequält hat, als sie klein waren, genauso wie sie selbst als Kind gequält wurde. Nun macht sie ihren erwachsenen Kindern keine Vorwürfe und keine Schuldgefühle, wenn sie nicht kommen, weil sie sich nicht belügen wollen. Können Sie sich auch zu dieser emotionalen Ehrlichkeit durchringen?

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet