Die befreiende Neugier
Sunday 04 October 2009
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Liebe Frau Miller,
einige Male zuvor hatte ich Ihnen bereits geschrieben. Ihre Bücher habe ich alle, teilweise mehrmals gelesen. Sie haben mir unglaublich geholfen, alleine für mich schon sehr viele Dinge zu erfühlen und erforschen. Eine riesengroße Freiheit ist es, jetzt wählen zu können, wie ich reagiere, wenn mich etwas ärgert. Ich hatte die Wut gefunden, die ich als Kind manchmal noch fühlen konnte: Ich wollte sie umbringen, diese Peiniger, diese Menschen, die mich sowieso nie verstanden, mit denen ich so allein war!
Inzwischen habe ich eine empathische Therapeutin gefunden, die mir hilft, das zu finden, was ich allein, ohne Begleitung, bisher noch nicht wagte anzuschauen.
Manchmal kommt es mir vor, als robbte ich zentimeterweise an den Abgrund meiner Kindheit heran. Nur langsam und nach und nach kann ich das volle Entsetzen darüber zulassen. Das Entsetzen, was dieses kleine Mädchen durchmachen musste, was sie erlitten hat, die totale Überforderung, sich ständig wie ein Chamäleon an alle anzupassen. Ein Chamäleon tut das instinktiv, es liegt in seiner Natur, es muss darüber nicht nachdenken. Ein Menschenkind muss sich ständig überlegen: ist das die richtige Zeit, sind das die richtigen Worte, der richtige Tonfall, darf ich das, ist das vielleicht falsch, was ich da will? Mache ich mich schuldig, schaut jetzt der liebe(?) Gott zu, auch wenn Mami nicht zuschaut? Wenn der Papi schimpft, dann habe ICH nicht die richtige Zeit, die richtigen Worte gewählt. Oder ich habe grundsätzlich etwas unglaublich vermessenes gesagt, wie konnte ich nur den Papi kränken?
Wie habe ich mich angestrengt! Immer und überall! Alles musste genau durchdacht sein! War ich zu laut? Hatte ich den richtigen Gesichtsausdruck? Papi hat gesagt, ich schau immer so grimmig. Schau ich jetzt richtig?
Meine Güte! Hat er sich jemals gefragt, WARUM ein Kind, SEIN Kind, so grimmig schaut?!
Auch kam ich durch eine aktuelle Situation an eine uralte Verlassenenheitsangst heran ich wachte nachts auf, die Emotionen waren so stark, dass ich mich aufsetzen musste. Ich hatte das Gefühl, sie würden mich sonst überfluten und ich würde daran ertrinken! Ich ertappte mich dabei, wie ich vor- und zurückwippte und leise Mami, Mami, bitte komm doch! wimmerte.
Es war ein entsetzlicher Abgrund, der sich da auftat! Was hatte ich aushalten müssen, damals!
Ich kann jetzt erkennen, warum ich so vieles heute noch nicht kann, mich nicht traue, alle erdenklichen Angstsymptome bekomme, wenn ich z.B. auf ein Amt muss immer mit dem Gefühl: Ich genüge den Ansprüchen nicht, ich bin zu klein, zu dumm, ich kann das doch gar nicht, bestimmt habe ich etwas falsch gemacht!
Gerade las ich diesen Text Das Kind als Heilsbringer und fühle mich zutiefst betroffen!
Jede einzelne Zeile kommt mir so vertraut vor! Es macht mich traurig und gleichzeitig wütend, dass so wenige das ehemalige Kind sehen wollen!
Diese sture Blindheit, diese blinde Sturheit bringt mich an ein Gefühl von damals: die Wut, nicht gesehen zu werden, die Wut über dieses Wegschauen, diese Ver- und Missachtung, dieses Geh in dein Zimmer, und wenn du nicht weißt warum, dann erst recht! Keines Blickes war ich würdig, und später das, wie in diesem Text: so tun als ob nichts gewesen wäre. Ich durfte noch froh sein, dass darüber hinweggeschaut wurde!
Und ich durfte froh sein, dass ich gestillt wurde! Und auch sonst so gut versorgt! Essen, Kleidung, Schulbildung, sogar mein Faschingskostüm hat sie selbst genäht! wunderbare Eltern hatte ich!
Ich hatte nicht einmal die Chance auf Erleichterung mit Freunden. Immer wenn ich welche gefunden hatte, zogen wir um. Wir mussten immer wieder ins Ausland, weil mein Vater einen so wichtigen Beruf hatte. Der Beruf war wichtig, die Kinder nicht.
So lernte ich mich auch sprachlich perfekt anzupassen und reagiere inzwischen allergisch, wenn mir jemand dieses als Privileg auslegen will! Lieber hätte ich einen deutschen Akzent, als dass ich durch die perfekte Anpassung an meine Umgebung fast mich selbst verloren hätte!
Das wird auch noch eine Weile dauern, bis ich das ganz auflösen kann. Dieses ewige Nur-Nicht-Auffallen ist so anstrengend!
Aber immer mehr finde ich das Mitgefühl mit dem kleinen Mädchen und immer mehr vertraut sie mir ihr Leid an! Und immer mehr finde ich die Liebe zu ihr. Sie war nicht böse, nie. Aber sie war mal wütend, und ganz tief drinnen blieb sie das vielleicht hat sie das teilweise gerettet.
Ich komme inzwischen an Sätze wie: Du bist ein komisches Kind!, den Blick von mir abgewandt mit verächtlichem Gesichtsausdruck, oder an das Nachäffen meiner verzweifelten Mamirufe, nach dem Aufwachen. Alles war so still, ich konnte nichts hören, es war hell und keiner war da? Ich rief und keiner kam, meine Rufe wurden lauter, dann riss sie die Tür auf: Mamä! Mamä! äffte sie mich nach. Ich erschrak und fühlte mich schuldig. Ich muss zwei gewesen sein, meinen Bruder gab es noch nicht.
Oder später den Satz: Eure Kinder müsst ihr selbst großziehen. Ihr ward anstrengend genug!
Nach der Geburt meiner Tochter habe ich erst nach Aufforderung meines Arztes mich getraut, meine Eltern um Hilfe zu bitten, damit ich wenigstens ein bisschen schlafen konnte. Meine Tochter war ein Schreikind, und ich empfand sie als Monster. Ich fühlte mich so schuldig, weil ich keine richtige Mutter sein konnte! Woher das kam, konnte ich mir damals nicht erklären.
Vieles hat sich schon geändert, vieles ändert sich noch, ich fühle mich zunehmend freier und konnte auch meiner Tochter sagen, dass ich vieles falsch gemacht hätte und mir das sehr, sehr leid tut. Vielleicht konnte ich ihr dadurch und durch mein jetziges, verändertes Verhalten wenigstens die Türe öffnen, dass sie irgendwann ihre eigene Geschichte finden und ihren eigenen Weg gehen kann ohne unnötige Angst- und Schuldgefühle!
Meinen Weg finde ich mehr und mehr. Ich habe meine eigene Therapeutentätigkeit als Körpertherapeutin unterbrochen, weil ich merkte, dass ich mit vielen der dadurch bei Klienten ausgelösten Emotionen nicht adäquat umgehen konnte.
So langsam fühle ich meine Kraft wachsen, muss mich nicht mehr ständig allen und allem anpassen, muss es niemandem mehr Recht machen, nur damit ich ihnen gefalle wie oft das blind abgelaufen war, ist mir erst nach und nach klar geworden! Von der Kleidung oder den Worten, die man wählt, bis hin zur Haltung und um Gesichtsausdruck (s.o.), alles musste ich denken kein Wunder fiel ich immer wieder in depressive Zustände, in denen mir alles, jeder Handgriff, jedes Wort zu viel war!
Inzwischen passiert es tatsächlich, dass ich bei manchen Begebenheiten, die mir früher unendlich peinlich gewesen wären, lachen muss und denke oder sogar sage: Ist es nicht ein Glück, dass wir Fehler machen dürfen vielleicht ja sogar sollen!
Welch eine Freiheit!
Auch wenn der Rest des Abgrunds noch gesehen werden will jetzt fühle ich die Kraft und sogar die Neugier darauf, was da noch verborgen ist: es tut entsetzlich weh, aber es bringt nicht um, sondern befreit tatsächlich. Täglich MICH zu spüren und immer klarer spüren zu können, was tut MIR gut, was will ICH, und auch die Freiheit abzuwägen, wo komme ich anderen entgegen, wo passe ich mich an, OHNE mich aufzugeben!
Ich danke Ihnen, wie schon die anderen Male zuvor, von ganzem Herzen für Ihre unerschütterliche und kompromisslose Klarheit!
Danke auch ausdrücklich dafür, dass Sie den Mut hatten, bei sich selbst genau hinzuschauen, denn sonst wären Ihre Bücher, diese Seite, das Bestärken anderer auf ihrem Weg und die vielen wertvollen Leserbriefe ja nie entstanden!
Herzliche Grüße,
I.H.
AM: Sie schreiben: „Auch wenn der Rest des Abgrunds noch gesehen werden will, jetzt fühle ich die Kraft und sogar die Neugier darauf, was da noch verborgen ist: es tut entsetzlich weh, aber es bringt nicht um, sondern befreit tatsächlich.“ Das sind nicht leere Worte, Ihr ganzer Brief strahlt diese gesunde Neugier aus und zeigt, was sie bereits erbracht hat. Sie wollten und wollen WISSEN, was geschehen ist, und sie finden das heraus. Und weil Sie das wollen, fanden Sie eine geeignete Therapeutin, die Sie begleiten kann, und niemand kann Sie daran hindern oder Sie mit komplizierten Theorien verwirren. Das ist keine Zauberei, sondern die Logik des ehrlichen Suchens nach Fakten und nach den eigenen Emotionen. Ich gratuliere Ihnen zu diesem Erfolg.