Das Kind muss an die Liebe der Mutter glauben

Das Kind muss an die Liebe der Mutter glauben
Monday 06 March 2006

Liebe Frau Miller,

ich hätte nicht erwartet, so schnell eine Reaktion auf meine Mail für Ihre Seite zu bekommen. Dafür möchte ich mich von Herzen bedanken. Ihre Zeilen haben mich sehr bewegt und mir Zuversicht gegeben. Natürlich waren Ihren klaren und starken Worte für mich auch erschreckend und erschütternd – es ist eben sehr schwer, die Eltern in einem für sie ungünstigen, aber enthüllenden und klaren Lichte zu sehen. Mir fällt es noch immer schwer, meine Mutter als selbstsüchtig zu betrachten, da sie sich von meinem achten Lebensjahr an bis zu ihrem Lebensende bald um ein Dutzend älterer und alleinstehender Menschen kümmerte und bis zu deren Tod auch pflegte. Deshalb galt sie im Verwandten- und Freundeskreis fast als Heilige obgleich sie sich oft darüber beklagte, daß diese Menschen so undankbar wären. Aber sobald einer gestorben war, hatte sie schon den nächsten “in Pflege und Arbeit”. Daß Sie bei meinem Brief an Kafka dachten, war mir allerdings nicht verwunderlich. Ich habe Kafka nie lesen können und ihn immer abgelehnt – nicht, daß ich ihn für keinen großen Autor gehalten habe – im Gegenteil. Ich wußte aber schon von meiner Schulzeit an, daß Kafka Dinge beschrieb, die mich extrem bedrückten. Und so habe ich ihn instinktiv gemieden. Mein literarischer Abgott wurde Thomas Mann – der gewiß aus ähnlichen Impulsen wie Kafka schrieb, der aber seine innere Leere und Depression in epochale Arbeiten der Selbststilisierung verwandeln konnte.
Auf Ihrer Internetseite erwähnen Sie auch in einem Artikel “Ludwig II.” von Bayern – eine historische Figur, die mich seit meinem 16. Lebensjahr anzog und über die ich auch mehrere literarische Arbeiten geschrieben habe. Ich versuche zur Zeit eine längere Erzählung über sein Leben in Tagebuchform zu schreiben und flechte dabei vorhandene Tagebucheinträge und Briefe ein.
Mit zwei weiteren Erzählungen über Thomas Mann und den “Erfinder” der deutschen Klassik – Johannes Joachim Winkelmann – soll der Ludwigtext in einem Band erscheinen – wenn ich einen Verlag finde. Alle drei Texte handeln – das merkte ich erst seitdem ich Ihre Arbeiten genauer kenne – von “Ver”rücktheiten und ungelebtem Leben; letztendlich von den lebenshemmenden und lebensvernichtenden Strategien, die diese drei historischen Figuren früh gelernt haben. Und so erscheint ihr Leben, ob nun in nobelpreisgehrtem Ruhm, ob in märchenhafter Verklärung oder klassich-philosophischer Größe als folgerichtig und gescheitert, weil ungelebt und voller irrsinnig-irrwitziger Arbeit, doch noch Beachtung und Zuneigung zu empfangen, die man als Kind nie bekommen hat. Es ist richtig, in diesem Sinne zu schreiben – aber es ist grundverkehrt – das verdanke ich Ihren Büchern – diese Personen als Vorbild fürs Scheitern zu nehmen und zu verklären. Die Hälfte des Buches ist geschrieben – sollte es zu einer Veröffentlichung kommen, dann werden Sie gewiß eine der ersten sein, die ein Exemplar geschickt bekommen.

In diesen Tagen beschäftige ich mich beruflich, also journalistisch, mit dem gerade erschienen Buch des SPIEGEL-Autors “Peter Wensierski: “Schläge im Namen des Herrn”. Er beschreibt darin das gleichsam systematische Martyrium von hunderttausenden von Heimkindern seit dem 2. Weltkrieg bis in die 70er Jahre. Ich habe für meine Berichterstattung auch mit einigen der ehemaligen Heimkinder sprechen können; die sind jetzt in den 5oer- bis 60ern. Es war kaum zu ertragen, ihnen zuzuhören; die, die Peter Wensierski ihre Geschichte erzählt haben und sich jetzt auch im Zuge der Öffentlichkeitsarbeit für das Buch engagieren, gehören noch zu jenen, die einen Weg fanden, mit ihren Erfahrungen auf die eine oder andere Art und Weise produktiv umzugehen. Erschütternd war aber zu hören, daß die meisten der ehemaligen Heimkinder ein erbärmliches Leben fristen, Alkoholiker wurden oder straffällig, in ihren Beziehungen scheiterten etc. etc. – und dann tritt der Herr Stoiber in Bayern auf und fordert wieder geschlossene Heime für “Schwererziehbare” Jugendliche. Solche Dummköpfe sind noch nicht einmal mit einem an sich schrecklichen, aber in diesen Zeiten doch wohl treffenden ARgument von ihrer Meinung abzubringen: einer der ehemaligen Heiminsassen rechnete mir vor, wieviel die Gesellschaft für die Folgeschäden einer solchen Erziehung finanziell zu tragen hat; da sind die Arzt- und Klinikkosten, die Arbeitslosengelder und die Kosten für Gefängnisse. Das ist natürlich kein humanes Argument – aber da z.Zt. nur noch matrielle Werte zählt, könnte man vielleicht manchen Politiker so überzeugen. Nunja, obwohl es mir schwerfällt, mich mit diesem Thema zu beschäftigen, weil ich an soviele selbst erlittene Demütigungen erinnert werde, habe ich doch die Kraft gefunden, es zu tun. Es ist dringend nötig, die Ungerechtigkeiten aufzudecken, die nach dem 2. Weltkrieg fast mit der gleichen Geisteshaltung begangen wurden wie die Verbrechen im Nazi-Reich.
Jedenfalls kann ich in meinem Umfeld und in meinem Arbeitsbereich wenigstens etwas in Ihrem Sinne tun.
Noch einmal meinen Dank von Herzen – und meine allerbesten Grüße und Wünsche für Ihre weitere Arbeit,
W B

AM: Ich kann mir gut vorstellen, dass mein Brief Sie schockiert hat, aber ich meinte, Ihnen diesen Schock zumuten zu dürfen, ja zu müssen, weil ich Sie aus Ihrer Lethargie aufrütteln wollte. Jedes Kind liebt seine Mutter und muss an ihre Liebe glauben, um nicht zu sterben. So versteht es auch die schlimmste Grausamkeit als Zeichen der Liebe. Aber wenn es dem großen W gelingt, mit dem kleinen W ins Gespäch zu kommen, dann wird er ihm einiges erklären, und der kleine W wird das verstehen, ganz bestimmt, aber dafür braucht er Zeit, U.U. viel Zeit.
Auf der Leserseite steht jetzt meine Antwort an Frau PL vom 5.3.06, die Ihnen vielleicht nützlich sein kann. Sie wird Ihnen auch helfen zu verstehen, weshalb es mir unumgänglich erschien, Sie so drastisch mit der Realität zu konfrontieren. Dass Sie Thomas Mann so bewunderten, wundert mich nicht. Er half Ihnen, mit seiner Selbststilisierung, vor Ihrer Realität zu fliehen. Sie haben das nicht nötig, weil Sie Ihre Wahrheit suchen und nicht auf sie verzichten wollen. Daher sind Sie so krank geworden. Aber Sie sind ja bereits auf dem Weg, sich von Ihrer Depression zu befreien.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet