Erinnerungen ausgraben

Erinnerungen ausgraben
Sunday 31 January 2010

Liebe Frau Miller,

ich lese schon seit einiger Zeit ihre Leserbriefe und bin begeistert von Ihrer Website. Nun habe ich lange schon vor Ihnen zu schreiben, immer wieder ging es mir durch den Kopf.

Ich glaubte, das alles mit der Geburt meines Sohnes vor ungefähr 16 Monaten begann, aber durch Sie ist mir nun endlich klar, das ich wohl schon mein ganzes Leben an Depressionen litt. Doch erst durch die Geburt meines Sohnes fing ich an zu suchen, was mit mir los ist. Er war und ist für mich ein absolutes Wunschkind, doch schon sobald nach der Geburt war ich heillos überfordert, wurde wütend auf ihn, empfand Hass und habe gedacht, ich verliere mein eigenes Leben. Aussenstehende und selbst meine Mutter gaben mir Ratschläge und Tips, wie ich mit meinem Kind umgehen sollte. Aber dahinter standen nur Schuldzuweisungen. Ich habe mir solche Vorwürfe gemacht, es war so eine schreckliche Zeit. Warum bin ich so? Warum kann ich ihn nicht lieben, ich habe ihn mir doch so sehr gewünscht? Es ist sogar ein Sohn geworden, den ich mir so gewünscht habe. Nur Selbstzweifel, ich bin eine schlechte Mutter und ich mache alles falsch. Es hat mich wütend gemacht, wenn ich ihn windeln musste, es hat mich wütend gemacht, wenn er geschrien hat, es hat mich wütend gemacht, wenn er Hunger hatte, es hat mich wütend gemacht, wenn er nur getragen werden wollte. Warum??? Mit 4 Wochen musste er operiert werden, es ging um Leben und Tod, er hatte eine angeborene Pylorusstenose. Ich hatte wirklich Angst ihn zu verlieren, jedoch überforderte es mich. Ich hatte niemanden, der mich verstand, mich mal fragte, wie es mir geht. Oft hatte ich nur den Gedanken, jetzt kann ich nicht mehr und ich haue ab und lasse ihn allein. Das habe ich jedoch nie getan. So verrückt wie es klingt, habe ich ihn nur schwer alleine lassen können oder ihn in die Obhut anderer geben können. Ich hatte Angst, ihm könne es dort nicht gut gehen. Aber bei mir ging es ihm emotional auch nicht gut. Ich hatte oft nur die letzte Kraft, ihm seine Bedürfnisse zu erfüllen, die ihn am Leben liessen. Ich versuchte, anderen Menschen mitzuteilen, was ich fühlte, hörte auf deren Ratschläge und versuchte alles besser zu machen. Aber immer wieder geriet ich an meine Grenzen. Mit der Zeit wurde ich immer kranker, lief von Arzt zu Arzt, dachte ich habe sehr schlimme Krankheiten, die nicht heilbar sind und ich sterben werden. Das vergrößerte die Sorge darum, nicht mehr für meinen Sohn da zu sein. Plötzlich musste ich notfallmäßig ins Krankenhaus eingeliefert werden, ich spürte meine linke Körperhälfte nicht mehr und konnte mein Bein nicht mehr anheben. Alle möglichen Untersuchungen und ich rechnete mit dem Schlimmsten. Die Untersuchungen ergaben völlige Gesundheit, nur bei der Entlassung, erklärte mir eine Ärztin, das es psychologisch sein könnte und mein Körper damit aufgeschrien hätte “So, stopp jetzt, bis hier und jetzt nicht mehr weiter”. Es war ein Aufschrei meiner Seele!!!!! Das habe ich aber erst ca. ein halbes Jahr später verstanden, es war zwar in meinem Kopf, aber ich wollte es wohl nicht wahrhaben. Irgendwann bekam ich mitten in der Nacht aus dem Schlaf heraus eine riesige Panikattacke und ich dachte, jetzt sterbe ich. Ab diesem Zeitpunkt hole ich mir nun Hilfe. In einer Therapie und bei Ihnen, liebe Frau Miller. Sie haben mir einen Weg eröffnet, der mir hilft auszubrechen. Es ist hart und ich stehe wirklich noch ganz am Anfang und ich kämpfe jeden Tag. Ich habe wenig Erinnerungen aus meiner Kindheit, nur einzelne Geschehnisse, die eigentliche Erinnerung beginnt etwa ab 15 Jahren. Und das macht mich auch so wütend, warum kann ich mich nicht an viel früher erinnern? Was ist dort geschehen? Ich versuche meine Gefühle zu erreichen und auch zu fühlen, aber es gelingt mir oft nicht. Ich merke meine körperlichen Beschwerden tagtäglich und ich weiss, dass das mein inneres Kind ist und ich will ihm helfen? Aber warum erreicht es mich nur so selten? Können Sie mir eine Antwort geben. Gerne können Sie diesen Brief veröffentlichen.

Ich wünsche allen und besonders mir, endlich meine Freiheit zu finden und ich weiss, ich bin auf dem richtigen Weg. Mein Sohn zeigt es mir jeden Tag und ich bin dankbar dafür, das es ihn gibt und er so viel Geduld mit mir hat. Er zeigt mir die Welt, wie sie richtig ist und es ist schön eine Kinderseele zu spüren.

Vielen Dank, das es Sie gibt und das Sie nie den Mut aufgegeben haben.

Allerliebste Grüße SH

AM: Ihre Wut richtet sich auf Ihren Sohn, meint aber Ihre Eltern. Sobald Sie den Grund Ihrer DAMALIGEN Wut finden, wird sich vieles verändern. Vielleicht wird die Lektüre meiner Bücher helfen, diese verdrängten, weil so schmerzlichen Erinnerungen auszugraben. Fangen Sie mit dem Buch “Dein gerettetes Leben” an.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet