Sackgasse trotz Fortschritten?

Sackgasse trotz Fortschritten?
Sunday 16 March 2008

Liebe Frau Miller,

wie sehr viele Ihrer Leser bin ich froh und glücklich, dass ich auf Ihr Buch “Am Anfang war Erziehung” stiess. Es nannte genau das beim Namen, dass mich selbst so lange Zeit sprachlos machte. Aufgewachsen in einer “behütenden” Mittelstandsfamilie tief im Westen Deutschlands, die Eltern bis zum heutigen Tage verheiratet, gutbürgerlich, Einfamilienhaus, bin ich die Ältere zweier “Wunschkinder”, einem Mädchen und einem Jungen. Sie wurden sogar in der gewünschten Reihenfolge (zuerst das Mädchen, ich) geboren. Heute weiss ich, warum dieser Wunsch existierte. Ich bekam einen wichtigen Auftrag in die Wiege gelegt, denn ich sollte die furchtbare Kindheit meiner Mutter büssen, während mein Vater feige danebenstand. Heute weiss ich, warum mir dieses Feingefühl für Menschen und ihren Problemen zuteil ist. Warum ich ihre Schmerzen scheinbar mitfühlen kann und empathisch bin. Es ist kein Verdienst. Die Herausbildung dieser Fähigkeit war überlebensnotwendig.

In meiner Kindheit (1975 geboren) mit dem konservativen Umfeld eines kleinen Ortes bekam ich schnell zu spüren, dass das Wort Kindesmisshandlung nicht existierte. Ich gehöre zu den Kindern, die damals (und heute noch immer) “schwer erziehbar” genannt wurden. Allein durch diese Formulierung wurde ich erfolgreich der Schuld bezichtigt. “Warum machst Du es Deinen Eltern so schwer?” Es ist aus meiner heutigen Sicht nahezu unfassbar, wieviele Menschen um mein Leid wussten und nichts unternommen haben. Noch nicht einmal ein Wort zu mir sagten. Es waren die Nachbarn, die die Schreie hörten, die Lehrer in der Schule, die meine Auffälligkeiten übergingen, der Bademeister und die Lehrerin die mir auf den Rücken starren mussten, da er über und über voller Hämatome der Schläge des Vortages war, die Verwandten, Mitschüler, deren Eltern, Bekannte meiner Eltern, Ärzte, sogar die Therapeutin, die mich wieder hinbiegen sollte,…niemand von all den Menschen hat mich jemals gefragt, wie es mir geht, geschweige denn, ob ich geschlagen werde. Aber alle kümmerten sich rührend um meine gestressten Eltern, die tatsächlich total hilflos schienen. Aber ich war “das Problem”. Für alle. Einstimmig. Ich habe es lange geglaubt.

Nach einem Suizidversuch im Alter von 12 Jahren kam ich nach einem Klinikaufenthalt, auf Rat des Kinderarztes in die geschlossenen Abteilung der Landesklinik, dann für einige Wochen zu meiner Tante, der Schwester meines Vaters. Diese Frau war ein Segen und damit die wissende und helfende Zeugin, die wahrscheinlich für mich in den vergangenen Jahren so wichtig war, obwohl ich nur wenige Male als Ferienkind bei ihr war und sie weiter weg wohnte. Sie nahm mich ernst, redete leise und respektvoll mit mir und gab mir als Kind eindeutig zu verstehen, dass ich “nicht schlimm” bin. Im Gegensatz zu meiner Mutter, die mich pausenlos anschrie, mir Befehle gab, mich prügelte, überprüfte und in einem Ton und einer Wortwahl mit mir sprach, als wäre ich ein Tier. Jeden Tag. Ich selbst hatte vieles verdrängt, jedoch hat mir meine Cousine, die Tochter eben dieser Tante, später einmal erzählt, dass sie auch einmal als Ferienkind bei mir zu Hause war. Diesen “Urlaub” hat sie vorzeitig abgebrochen, weil sie die Atmosphäre, die sie in dieser Zeit erlebte, einfach nicht mehr ertragen konnte.

Im Alter von ca. 9 Jahren begann ich Sport zu machen und leidenschaftlich zu turnen. Ich spürte meinen Körper und spürte meine Kraft, die wuchs und wuchs. Ich war erfolgreich im Training und Wettkämpfen, aber dies war nur EIN Grund für meinen Ehrgeiz. Ich schlug zurück.
Alles, was dann folgte, empfinde ich erst heute als ein Freiwerden allen Schmerzes und hatte eine wahnsinnige Dimension. Ich lebte die ganze Wut plötzlich aus: Ja, ich war eine Furie! Die Kräfte, die da frei wurden waren so immens, die Wut so gross, meine Tränen so viele, mein Schreien so laut, meine Eltern bekamen die Hölle auf Erden präsentiert. Ich habe Möbel zerschlagen, Türen eingetreten und war noch nicht einmal in der Pubertät und ein Mädchen! Nach aussen hin war ich sehr still und friedlich, dass sich niemand meine Wutanfälle erklären konnte. Ich selbst am wenigsten, was mich fast schizophren machte. War ich nun das stille friedliche Kind, oder das schlimme teuflische? Es hat mich halb wahnsinnig gemacht und später zu eben jenem Selbstmordversuch getrieben. Ich war das Problem, machte allen Kummer und konnte mich nicht “beherrschen”, da ich diese wahnsinnigen Wutanfälle einfach nicht “kontrollieren” konnte. Es war, als hätte etwas Böses und Fremdes Macht über mich. Da ich bereits gelernt hatte, dass ich ein böses Kind war, habe ich nicht sehen können, dass sich das kleine “gute und unschuldige” Kind in mir wehrte, das ich als fremd empfand und genauso niederdrücken wollte, wie es meine Eltern und andere taten.
Ich fragte meine Mutter 10 Jahre später mit grosser Angst wie ich als Kleinkind gewesen bin und rechnete damit, dass ich schon immer laut, eigenwillig und aufmüpfig war. Aber sie antwortete ganz aus dem Bauch: “Nein, eigentlich warst Du ein sehr ruhiges Kind.” Das war ein Schlüsselerlebnis. Warum dann all diese Schläge, Schimpfe und Schreie? Das fragte ich mich seit diesem Moment. Es sollte nochmal 10 Jahre dauern, bis ich alles verstand.

In diesen letzten 10 Jahren flüchtete ich zunächst weiter in alle möglichen Formen der Körperarbeit. Vom Turnen kam ich zum Tanzen. Ich konnte mir körperlich Ausruck verschaffen, spürte meine Kraft und dass mein Körper nun mir ganz allein gehörte und es tat unendlich gut. Heute sehe ich, dass ich dabei noch den strengen Rahmen (z.Bsp.: Ballett) benötigte, den andere mir vorgeben sollten. Ich glänzte vor Trainern, Lehrern und Mitschülern, da auch meine damalige Aktivität immer Wettkampfcharakter hatte. Ich verfolgte meine Erfolge und Siege nicht, wusste noch nicht einmal, in welcher Liga ich antrat. Mir war der Zuspruch in meinem direkten Kontakt mit den Personen wichtiger. Die Körperarbeit war zum Teil zu einem wichtigen Ventil geworden. Aber da ich zu dieser Zeit immer noch zu Hause wohnte und litt (mittlerweile nicht mehr unter Schlägen, sondern unter der ausgesprochen grossen Gleichgültigkeit meiner Eltern), benutzte und quälte ich meinen Körper. Nun hatte ich allein das Sagen über ihn, benutzte ihn, befahl ihm dünner zu werden und machte mich damit kleiner, als ich war. Ich erkannte nicht, dass nun ich die Quälereien meiner Eltern fortsetzte, bishin zu einer schweren Essstörung. Auch die Schmerzen meines Körpers spürte ich kaum. Ständig hatte ich durch das Training irgendwo blaue Flecke und wusste nicht woher. Ich spürte nicht, wann ich mich verletzte und wenn, dann spielte ich es herunter und wollte nicht zimperlich sein.

Nach meinem Auszug mit 17 Jahren hatte ich schlagartig keine Essstörung mehr (dachte ich, da ich zumindest die schwere Bulimie der letzten Jahre los war) und das Bedürfnis sank, mich körperlich zu betätigen. Ich hörte auf zu trainieren. Ich dachte:”Nun habe ich es geschafft.” Dem war bei weitem nicht so. Nach Kontaktabbruch zu meinen Eltern, der sehr gut tat, kam es nach ca. 1 Jahr wieder zu einer Annäherung. Sie nahmen Kontakt auf. In wenigen Gesprächen liess ich mich schnell überzeugen, dass zu all den Schwierigkeiten in meiner Kindheit “ja immer zwei!” gehören. Diese Schuld nahm ich auf mich. Ich nahm sie mit in alle Beziehungen, die ich zu Männern hatte. Es war auffällig, dass ich mir Männer suchte, die nicht in der Lage waren, mir Liebe zu geben. Meine Beziehungen bestanden aus langjährigem Warten auf Zuneigung und Zärtlichkeit. Gottseidank suchte ich mir keine, die mich schlugen und nahm das als Indiz dafür, dass ich mich nicht in das alte Kindheitsmuster flüchtete. Ich entschuldigte meine Eltern weiterhin und beschuldigte mich. Essgestört war ich weiter. Dazu kam Drogenmissbrauch aller Art bishin zum Heroin. Als ich die ersten Entzugserscheinungen spürte, fühlte ich wieder diese unbändige Kraft in mir, die ich als Kind hatte, als ich begann mich zu wehren. Allerdings keine Wut. Ich sah damals in den Spiegel wie Christiane F. und sah mir mein eingefallenes trauriges weisses Gesicht an. Ich bekam Angst vor mir selbst. Es war Nachts, als ich das tat und es war dunkel. Ich war mir unheimlich und erkannte mich nicht mehr. Am nächsten Tag riss ich mich von den Leuten los, die in dieser Clique waren und mit denen ich zusammen wohnte. Ich organisierte sofort eine Wohnungssuche. Sie waren wütend, versammelten sich und versuchten mich in meinem Zimmer zu umzingeln, in dem sie dort Drogen konsumierten. Sie wollten, dass ich mitmache und erniedrigten mich, indem sie sagten, dass ich das sowieso nicht schaffe. Die Kraft, die ich in mir spürte, war Trotz. Ich zog aus und es ähnelte dem Auszug aus meinem Elternhaus. Ich rührte Drogen -seltamerweise ohne Mühe – nie wieder an. Ich machte mein Abitur.

Diese Art Trotz und die wahnsinnige Kraft, die dabei entstand, sollte ich noch häufig in meinem Leben spüren, wenn ich mich wieder in Situationen begeben hatte, die mir nicht gut taten. Der Trotz war dann immer stärker als alles andere. Allerdings waren es immer Zeitpunkte, an denen es schon fast zu spät war. Ich haber noch immer zu wenig Gefühl für mich, als dass ich die frühzeitigen Warnsignale verstehen kann.

Nachdem ich 6 Jahre keinen Sport gemacht hatte, habe ich eine Ausbildung zur Gymnastiklehrerin gemacht. Danach arbeitete ich 5 Jahre lang mit Kindern in einem Hort, in dem ich sie längere Zeit am Tag sah, als ihre Eltern. Damals zog es mich zu diesem Job hin (es war die einzige Bewerbung, die ich schrieb und ich bekam den Job auf Anhieb). Aber ich hatte grosse Angst, dass ich in dasselbe Muster verfalle, wie meine Eltern. Ich hatte wahnsinnige Angst. Mir war klar, dass bei dem Tohuwabohu und 40 Kindern mit zwei bis drei Betreuern vorprogrammiert war, dass ich in Situationen Bauchentscheidungen fällen muss, in denen einfach keine Zeit zum Nachdenken und Reflektieren bleibt. Meine Angst war, dass ich genau dann keine Wahl habe: “Dann machst Du automatisch, was Du kennst!” dachte ich. Nach der ersten Woche fragte mich eine Kollegin, wie es mir ginge. Ich antwortete, dass es mir noch nie so leicht gefallen ist, zu etwas “ja” und “nein” zu sagen. Ich habe die Wut, die ich in den Gesichtern meiner Eltern sah, bevor und während sie mich schlugen, weil ich in ihren Augen etwas Schlimmes getan hatte, den Kindern gegenüber niemals gespürt. Es gab absolut nichts, was mich jemals so wütend machte, dass ich sie hätte schlagen oder erniedrigen wollen. Dem ging hirnzermarternde Gedankenarbeit vorraus, die ich mir in zuvor absolvierten Praktika in Kinderheimen und Verbänden gemacht hatte. Ich ging gedanklich damals Situationen durch, die ich in der Kindheit erlebt hatte und die ich nicht verstanden hatte. Zum Beispiel die endlosen Befehle, die ausgeführt werden mussten, ohne dass ich ihren Sinn verstand. Wenn ich als Kind fragte, warum ich das tun soll, bekam ich die Antwort: “Weil ich das so will.” Daraus entstand mein Vorsatz, einem Kind niemals ein Verbot zu erteilen, ohne dass es versteht, warum. Auch als Schutz vor mir selbst. Denn dann muss ich vor mir und dem Kind begründen können, dass dieses Verbot Sinn macht. Auch war ich mir darüber klar, dass man seine eigene Intelligenz dazu benutzen kann, um sich Begründungen für solche Verbote zurechtzulegen, die augenscheinlich logisch sind, aber trotzdem nur zur Machtausübung dem Kind gegenüber dienen. Auch das wollte ich nicht. Ich überprüfte meine Absichten den Kindern gegenüber sehr genau und es war unglaublich anstrengend. Aber ich hatte und habe noch viel zu grosse Angst vor mir selbst und wenig Vertrauen in mich und meine Gefühle. Alles muss ich scheinbar über den Kopf entscheiden. Meinem Bauchgefühl traue ich noch heute nicht. Um bei dem kleinen Beispiel der Verbote zu bleiben, greift ein Verbot, dessen Sinn vom kind verstanden wurde, dann eben auch in meiner Abwesenheit und appelliert an die Eigenverantwortlichkeit des Kindes. Die Kinder haben mir in den Jahren nur oft genug bewiesen, wie verantwortlich sie handeln können, wenn man sie nur lässt und ihnen allenfalls eine Begleitung und jederzeit ansprechbar ist.
Ich nutzte meine Aufgabe dort, sie körperlich zu fördern und in Bewegung zu bringen, indem ich Spiele mit ihnen entwickelte, Winter wie Sommer viel mit ihnen draussen war, Kletterparkoure und Erlebnislansschaften mit ihnen baute und ihnen damit Möglichkeiten für kleine Mutproben gab, die für viele sehr wichtig waren, wie sich oft herausstellte. Viel lief über Bewegung und Körper, wenn ich in ihre glücklichen Gesichter sah.

Ich selber war zum Workoholic geworden, war teilzeitselbständig und lebte nur für die Kinder und die Kurse mit Erwachsenen, die ich in Fitnessstudios gab. Der Sport und das Ausdauertraining war nun mein eigenes Ventil. Zu meinem Körper war ich immer noch hart und streng. 6 Jahre habe ich so überbrückt und hatte keine Beziehung. Die letzte Beziehung hatte ich zu einem Mann, der sehr sehr gut zu mir war, alles verstand und mir den Himmel auf Erden bereitete. Diese Beziehung erfuhr ich als totalen Frieden. Ich beendete die Beziehung bereits nach einem Jahr mit der Begründung, dass ich ihn nicht liebe und ihm grosses Unrecht zufüge, wenn ich trotzdem mit ihm zusammen bleibe. Heute weiss ich, dass diese Art der aufrichtigen Zuneigung und Hinwendung und dem wahren Interesse mir gegenüber derart fremd war, dass ich es nicht als Liebe zu bezeichnen wagte. Das mir jemand so gegenübertrat, löste das Gefühl in mir aus, dass irgendetwas “nicht stimmt” und es keine Liebe sein könne.

Nach den 6 Jahren geriet ich an einen Mann, bei dem ich nochmal alle Leiden der Kindheit (außer Prügel) erfahren sollte. Ich merkte nach 3 Jahren erst, dass ich abhängig von ihm und seinen emotionalen Quälereien war. Zudem war ich abhängig vom Sport. Ich realisierte nur langsam, dass er für meine seelischen Leiden sorgte, während der Sport meine körperlichen Leiden verursachte.
Zum Zusammenbruch meinerseits kam es an Weihnachten vor drei Jahren. Da stürzten alle Säulen ein, die ich hatte. Familie, Beziehung und Arbeit. Langsam fiel es mir wie Schuppen von den Augen, was die Leiden meiner Kindheit angerichtet hatten und wie fein sich die Fäden in alle Bereiche meines späteren Lebens gesponnen hatten, die mir jetzt den Hals zuschnürten und mir die Luft zum atmen nahmen (Raucherbronchitis). Tatsächlich hatte ich mir nicht nur einen Partner gesucht der mich quälte, sondern ich “suchte” und auch arbeitete freiberuflich für Menschen, die mich ausnutzten und mich fallen liessen. Zudem dachte ich, dass ich mit meinen Eltern ins Reine gekommen sei, was nie so war. All das sollte an diesem Weihnachten entlarvt werden und es war unendlich schmerzvoll. Ich verlor meine freiberuflichen Jobs. Meine Eltern bestellten mich Heiligabend ab, da sie krank seien. Ich fuhr unangekündigt hin, um ihnen trotzdem eine Freude zu machen, sie zu pflegen und Geschenke zu machen. Alles war innen festlich beleuchtet wie jedes Jahr als ich ankam und das Haus von aussen sah. Ich erwischte sie regelrecht, denn sie feierten mit meinem Bruder allein. Es war die Idee meiner Mutter, die dann doch “mal schnell was kochen wollte”. Ich sah in die Töpfe und wusste, dass dies schon am Vortag zubereitet worden sein musste. Ich brach in Tränen aus. Sie schafften es, jetzt wo ich erwachsen war, auch ohne Schläge mich zutiefst zu verletzen. Es tat genauso weh. Ich rief meinen damaligen Freund an, den es nicht interessierte, der mir Vorwürfe machte und die Sitution missbrauchte, um nochmal draufzuhauen. Meine Säulen waren eingestürzt. Alle Menschen, die ich für die wichtigsten in meinem Leben gehalten hatte, verletzten mich zutiefst und jeder sah nur sich. Ich konnte mit keinem von ihnen über meine Gesamtsituation sprechen.
Zum Glück hatte ich Freunde, die mich an diesem Weihnachten aufgefangen haben. Ich hatte immer liebe Freunde. Aber da erst habe ich erkannt, dass ich mich immer den falschen zugewandt hatte und ausgerechnet von denen Liebe erwartete, die sie mir nicht geben konnten.

Es veränderte mein Leben.
Ich verliess meinen Freund, meine Eltern, kündigte meinen festen Job, verliess die Stadt und zog vom tiefen Westen geradezu in den tiefen Osten, um noch einmal neu anzufangen. Ich hatte mich mit voller Unterstützung all meiner Freunde dazu entschlossen eine zweite Ausbildung zu machen und drei meiner besten Freunde begleiteten mich sogar dorthin. Die Schule für Physiotherapie, die ich mir aussuchte, lag im Osten Deutschlands. Die Stimmung in diesem Land war destruktiv wie meine eigene. Der Start war schwierig und die Zeit die darauf folgte auch. Hier empfand ich mich auf die Probe gestellt, ob ich wirklich verstanden habe, was ich nun zu tun habe. Ich geriet zunächst weiterhin an Menschen, die mir nicht gut taten, merkte es aber schneller als sonst und trennte mich schnell von ihnen. Neben der Ausbildung beschäftigte ich mich einsam und schmerzhaft mit meiner Kindheit. Langsam tauchten in meiner neuen Umgebung Menschen auf, die mir gut waren und zu denen ich Vertrauen fassen konnte.

Währenddessen erfuhr ich auch körperlich eine wundersame Wandlung. Ich nahm sehr viel an Gewicht zu und es war mir nicht so wichtig, wie in all den Jahren zuvor. Auch stellte sich heraus, worin nun der grosse Unterschied zwischen meiner ersten und dieser Ausbildung war: Ich kam meinem Körper und denen anderer Menschen näher. Ist doch eine Gymnastiklehrerin ausgebildet für Gruppentherapien aller Art, in denen viele Menschen “ohne Anfassen” behandelt werden, so geht es in der Physiotherapie um den einzelnen und der Behandlung durch Berührung. In der schulischen Partnerarbeit, in der natürlich Berührung und Anfassen mit dazugehört, stellte ich auf einmal fest, wie empfindlich ich eigentlich bin, wenn man mich berührt. Was bei anderen gerade angenehm war, verursachte bei mir Schmerzen. Ich hatte mich und meinen Körper immer für robust gehalten und war im Glauben, dass er besonders starke Reize bräuchte, was auch lange so war. Nun erfuhr ich das Gegenteil. Also hatte die Beschäftigung mit mir und meiner Kindheit ausgelöst, dass ich auch körperlich endlich das verwundbare Kind in mir fühlen konnte? So muss es gewesen sein und nun hatte ich unmittelbar Einfluss darauf, wie mit mir umgegangen wird und konnte es laut sagen.
Das wollte ich auch meinen zukünftigen Patienten und Klienten zuteil werden lassen.

Mir wurde bewusst, wie tief solche Berührungen gehen können, die eigentlich vom Therapeuten nur dazu gedacht sind, die Symptome zu lindern. Man wird ja dazu ausgebildet, dass die Schmerzen körperliche Ursachen haben: falsche Haltung, genetisch bedingte Degeneration, falsche Ernährung, etc.. Ich glaube durch meine eigene Erfahrung nicht mehr so recht daran. Nun stehe ich vor der grossen Frage, ob ich mit meiner Arbeit in der Bekämpfung der Symptome nicht die wahre Ursache verdecke und helfe, sie zu verleugnen. Ich habe jetzt, wo ich neu angefangen habe, die Möglichkeit so zu leben und auch zu arbeiten, wie ich es für richtig halte. Ich habe mir nun einmal einen therapeutischen Beruf ausgesucht, bei dem ich empathischen Fähigkeiten, die mir in meiner Kindheit das Überleben sicherten, für andere einsetzen kann. Aber ich möchte dies verantwortlich tun und auch wahrhaft bewirken, das zu finden, was dem Menschen der zu mir kommt, hilft. Ich möchte sie und darf sie nicht missbrauchen. Ich möchte meine Fähigkeiten nicht in den Dienst eines Systems der Verleugnung stellen, das die Ursachen von Leiden immer noch bei dem Menschen selbst sucht. Dabei hätte ich das Gefühl, dass ich mithelfe die brutale Erziehung von Eltern zu verdecken, die im späteren Leben für soviel Leid und Schmerz sorgt, der sich in körperlichen Symptomen Ausdruck verschaffen will, um endlich gehört zu werden. Ich würde auch wieder das Kind in mir verraten und ausliefern, wenn ich wirklich in dem Glauben therapiere, dass die Ursache eine rein körperliche ist und der Patient schuldig ist, weil er sich falsch hält, ernährt, usw. Die Konsequenz wäre, dass ich ihm sogar noch aufbrumme, was er alles machen muss, um “gesund zu werden”, um ihn mit einem riesigen Zusatzpaket auf dem Rücken nach Haus zu schicken.
Ein befreundeter Arzt antwortete mir auf meine Frage, bei wievielen seiner Patienten, die wirkliche körperliche Leiden haben, auch die Ursache eine körperliche ist:”Bei nur 30-40%.” Obwohl er zu den wenigen Ärzten gehört, die eine seelische Ursache für körperliche Leiden überhaupt in Erwägung ziehen, halte ich seine Antwort im Nachhinein für untertrieben.
Sie sehen, auch ich fühle mich zu einem therapeutischen Beruf hingezogen, wie viele gequälte Menschen. Oft macht man sich über die “Selbsttherapeuten” lustig. Ich versuche wirklich ernsthaft meinen Klienten gerecht zu werden und nicht zu projezieren. Das ist ein hartes Auseinandersetzen mit sich selbst und ich bewundere alle Therapeuten, denen dies gelingt.

Ich persönlich befinde mich gerade in einer Sackgasse. Trotzdem ich scheinbar viel verstanden habe, mir soviele wichtige Dinge bewusst geworden sind – auch durch so wichtige Menschen wie Sie – geht es mir doch nicht besser. Ich bewundere (und beneide fast) viele ihrer Leser, denen es scheinbar oft wie Schuppen von den Augen gefallen ist, wenn sie auf ihre Vergangenheit stiessen und sich auf einmal in einem ganz neuen Leben wiederfanden und echte Heilung erlebten. Noch immer habe ich kein Vertrauen in Menschen, kann mein Leben nicht schön finden, bin eine Einzelgängerin und nach wie vor Workoholic, um meinem Leben einen Sinn zu geben.

Was kann ich tun, damit ich nicht mehr so sehr kopfgesteuert durch die Welt laufe, sondern endlich fühlen kann, was um mich herum (Schönes) geschieht?

Sie dürfen diesen Brief gerne mit meinen Initialen verwenden, wenn Sie ihn als dienlich empfinden. Ich wünsche Ihnen und auch Barbara Rogers, von deren aufrichtigen und mitfühlenden Antworten auf Leserbriefe ich wirklich sehr berührt bin, viel Kraft, Energie und von ganzem Herzen alles Liebe. Es ist schön, dass es Sie gibt. E.K.

AM: Ihre Geschichte ist so entsetzlich, dass ich sie kaum zu Ende lesen konnte, so tat mir das unheimlich starke, schwer misshandelte kleine Mädchen leid. Offenbar begannen die Misshandlungen sehr sehr früh, so dass sich von Anfang an in Ihrem Gehirn die Botschaft breit machen konnte, dass sogar die extremste Grausamkeit als eine normale Erziehung gelten kann. Ihr Körper hat sich Ihr Leben lang dagegen gewehrt, die ganze unterdrückte Wut zuerst gegen die Möbel und dann gegen sich selbst gerichtet, mit Heroin, mit Rauchen, Übergewicht, nur gegen das Verhalten Ihrer Eltern waren Sie machtlos, weil die Gehirnwäsche SO FRÜH begann, in der Zeit, als sich Ihr Gehirn aufgrund des Erfahrenen formte. Sie sind hoch intelligent, verstehen sehr viel, nur Ihre Eltern bleiben von diesem Wissen ausgespart, weil das kleine Mädchen in Ihnen immer noch von ihnen unheimliche Schläge befürchtet, wenn es die Monstrosität seiner Mutter durchschaut. Dann müsste es sterben, glaubt es noch heute. Sie werden mich fragen, woher ich das weiss. Das weiss ich aus Ihrer Erzählung über den Besuch in Ihrem Elternhaus an Weihnachten. Mit Ihrer Sehnsucht, Erwartung und Enttäuschung zeigen Sie, dass Sie TROTZ ALLEM immer noch auf die Liebe Ihrer Eltern warten, dass Sie trotz Ihrer Intelligenz und Ihrer Kraft noch nicht verstanden haben, was Sie dort erwartet. Sie wurden, wie Sie selbst schreiben, von Anfang an dazu benutzt, der Container Ihrer Mutter zu bleiben, und fürchten sich, diese Rolle aufzugeben. Sie spielen Sie Ihr ganzes Leben lang. Haben Sie schon versucht, Ihren Eltern zu schreiben und ihnen Ihre Wahrheit mitzuteilen? Vielleicht müssen Sie zuerst viele Briefe schreiben, Ihre voll BEGRÜNDETEN Gefühle zuzulassen, ohne das Geschriebene wegzuschicken. Aber schliesslich werden Sie sicher die Kraft finden, Ihrer Mutter all das mitzuteilen, was sie an Ihnen verbrochen hat. Dann sind Sie frei, Menschen, die Sie lieben, auch mit Liebe zu empfangen und Ihren Beruf sinnvoll auszuüben. Dann werden Sie den Mut haben, Ihre Patientinnen mit den in ihrer Kindheit erfahrenen und in ihren Körpern gespeicherten Misshandlungen zu konfrontieren, statt ihnen Übungen und Diät vorzuschreiben und sie von ihrer Wahrheit wegzubringen. Ich bin ganz sicher, dass Sie dies tun KÖNNEN. Sie können meine Flugblätter (auf dieser Webseite erhältlich) ausdrucken und in Ihrer Praxis auflegen. So ergibt sich ein Gespräch mit den Menschen, die dazu fähig sind und bislang nicht wissen, weshalb sie sich quälen. Doch Ihr eigener Mut müsste ihnen vorausgehen. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg. Sie verdienen ihn!

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet