Meine Fragen an sie haben sich “von selbst” beantwortet

Meine Fragen an sie haben sich “von selbst” beantwortet.
Tuesday 14 August 2007

Liebe Alice Miller,

die letzten Tage ist viel passiert. Ich habe jetzt auch “Die Revolte des Körpers” und “Das verbannte Wissen” gelesen. Mein Körper wird durchgeschüttelt von den vielfältigsten Emotionen und auch von Erinnerungen. Ich dachte bisher ich sei eher selten geschlagen worden – aber das stimmt nicht. Meine Oma (Mutter meiner Mutter) zerbrach mindestens einen Kochlöffel auf meinem Hintern …

Im Jahre 2001 begann ich eine zweijährige Psychotherapie. Diese Therapeutin war sehr empathisch und sie stellte sich auf meine Seite. Ich erinnere mich genau an ihr Entsetzen über die Dinge, die ich ihr aus meiner Kindheit erzählte. Leider konnte sie mir viele Zusammenhänge nicht erklären, aber sie war nie der Meinung ich müsse meinen Eltern vergeben. Aber sie hat mich auch nicht daran gehindert, dass ich es tun wollte.

Jedenfalls habe ich in dieser Zeit den Kontakt zu meiner Mutter und meinem Stiefvater (den ich nie als Vater anerkannt habe!) abbrechen können. Es tat mir gut. Den Ausschlag gab ein Anruf meines Stiefvaters, der mir sagte meine Mutter sei mit Nierenversagen ins Krankenhaus gekommen und hätte eine Woche lang in Lebensgefahr geschwebt. Aber sie hätte verboten mich anzurufen – um mich zu schützen. Mein erster Gedanke war: Sie wollte mich nicht schützen. Sie wollte mich mit ein schlechten Gewissen “vererben” – sie wollte Rache an mir nehmen, dass ich mich nie um sie gekümmtert habe (was nicht wahr ist). Sie wollte mir sagen: Nun siehst Du – was Du von Deinem Verhalten hast. Überrascht war ich, dass meine Therapeutin auf den gleichen Gedanken gekommen ist, den sie formulierte bevor ich meinen kund tat.

Dennoch habe ich im Jahre 2004 nochmal kurzzeitig Kontakt aufgenommen, der mich dermaßen aussaugte und meiner Kräfte beraubte, dass ich kaum mehr in der Lage war nach Hause zu fahren, mir das Laufen schwer fiel und ich dachte – ich würde nie wieder zu Kräften kommen können. Ich verabschiedete mich innerlich und ging.

Sie ist letztes Jahr im März verstorben. Mir war im Vorhinein klar, dass mich mein Stiefvater nicht über den Tod informieren würde. Weder mich noch den kümmerlichen Rest der Familie. So kam es dann auch.

Mir wurde häufig gesagt – ich würde später darunter leiden, dass ich mich in den letzten Jahren nicht um meine Mutter gekümmert hätte. Aber ganz ehrlich: das ist nie eingetreten. Gelitten habe ich nur unter den vielen Forderungen von Außen – ich müsse mich doch um meine Mutter kümmern, denn ich lies mich immer mal wieder verwirren – letztendlich aber nicht beirren.

Die letzten Tage spüre ich ganz minimal meinen Hass – das erste Mal überhaupt, dass ich ihn so bewußt wahrnehme. Das Lesen auf Ihrer Page hier – grade in den Leserbriefen und den Artikeln – hat mir u.a. die Augen geöffnet, dass meine DURCH den Missbrauch so sehr geschulte Fähigkeit zum Mitleid (mit der Geschichte meiner Mutter) VERHINDERTE, dass ich wütend wurde.

Meinem Halbbruder lies sie im Stich – lies sie bei unserer Oma (ihrer Mutter) bis sein Vater ihn zu sich holte. Mir hat sie immer erzählt – er wurde ihr weggenommen. Was aber so nicht stimmen kann bzw. irgendwas ist an der Geschichte faul.

Es macht mich so wütend. Das Kind in mir fragt(e) immer wieder: Warum hat sie mich nie geschützt? Warum war sie so eifersüchtig (auf meine Begabungen) auf mich, obwohl sie doch wußte wie sehr sie unter der Eifersucht ihrer Mutter gelitten hat? Warum war hat sie mein Leid nicht gesehen?

Ihre Bücher erkären mir die Mechanismen – die ich innerlich schon immer irgendwie geahnt habe – so klar und deutlich, dass ich endlich verstehe. Mir wurde klar, dass das “zuviel” an Mitleid meinen Hass und meine Wut unterdrückt hat. Ich war immer auf der Suche nach der Wahrheit – aber wie oft hörte ich: Manche Dinge muss man nicht verstehen! Aber das stimmt definitiv nicht – das Gegenteil ist der Fall.

In meiner letzten Mail schrieb ich u.a. von meiner Schilddrüsenerkrankung Morbus Basedow. Ich rauch seit dem 14. Lebensjahr, weil ich wissen wollte, ob Rauchen “beruhigt” und ja es hat mich “beruhigt” in dem es meinen Stoffwechsel nach oben pushte und ich dadurch nicht mehr so viel fühlte.

Ich nahm nach einer erneuten ADHS-Diagnose – auf mein Bestreben hin – 3 Jahre lang Ritalin. Bis zur Entdeckung des Morbus Basedow – also der Überfunktion. DieÜberfunktion – und damit das weniger Fühlen – bewirkte u.a., dass meine Schuppenflechte und mein Rheuma sich wesentlich verbesserten – zumindest solange ich keinem übermäßigen Streß ausgesetzt war. Ich erzählte den Ärzten davon, dass ich das Gefühl habe – das Ritalin pushe meinen Stoffwechsel – aber es wolle (konnte?) mir keiner glauben.

Das Ritalin bewirkte, dass ich wirklich besser lernen konnte: nämlich mich anzupassen. Erinnerungen aus meiner Kindheit verblassten und ich dachte wirklich, wenn ich “vergessen” kann – dann habe ich das sicher verarbeitet. Vorher konnte ich mich übrigens immer nur an viele schlimme Dinge erinnern – gute hatte ich so gut wie gar nicht im Gedächtnis. Meine erste Erinnerung konnte ich mit Hilfe meiner Mutter so um meinen 18. MONAT herum datieren. Ich war krank (Lungenentzündung) und lag auf dem Küchentisch meiner Oma … fühlte mich allein gelassen und beengt … eine Nachbarin kam zur Türe hinein und …. die Erinnerung ist zu Ende.

Heute glaube ich, dass das Ritalin lediglich ein Verdrängen gefördert hat – aber nicht mehr. Warum sollte ich denn einen Morbus Basedow entwickeln, wenn mein Stoffwechsel eh schon gepusht war? Nach Ihren Büchern konnte ich die Antwort finden: Eine Überfunktion bewirkt, dass ich kein Ritalin mehr nehmen durfte – es absetzen musste. Ich denke genau das wollte mein Körper – nicht weiter verdrängen – sondern wieder hochholen.

Ich setzte das Ritalin ab und schwankte von der Überfunktion in eine Unterfunktion und zurück. Die Unterfunktion lies mich hyperaktiv werden. Ich war auf einmal so sensibel, dass es mir Angst machte – jetzt weiß ich auch warum und werde meine Hormone wieder nach unten korrigieren um wieder mehr zu fühlen – um mich meinen Erinnerungen und den damit verbundenen Gefühlen zu stellen – auch wenn es mir eine Scheiß-Angst macht.

Aber nun habe ich einen sehr liebevollen Mann an meiner Seite. Ich liebe ihn u.a. deswegen so sehr, weil ich bei ihm sein “darf” wie ich bin UND ich mit ihm reden kann – ich habe keine Geheimnisse vor ihm. Wie ich mich aus dem Teufelskreis befreite – mir nicht wieder einen Mann zu suchen der mich nicht liebt und mit dem ich nicht kommunizieren kann – ist mir noch nicht ganz klar. Einen Hinweis habe ich aber die Tage erhalten – ich las so im Jahre 2002 das Buch “Vergiftete Kindheit” (was ich vor ein paar Tagen wieder tat). Ich war überrascht, wie sehr mich dieses Buch “geführt” hat – die Autorin ist ja einer der wenigen, die – wie Sie – nicht der Meinung ist, man müsse den Eltern verzeihen.

Was mir aber ein wenig Sorgen bereitet – was meinen Mann angeht: Er representiert mehr das Kind in gewisser Weise, dass ich mir so lange (im Erwachsenenleben) nicht erlauben konnte zu sein. Aber ich denke ich habe einfach – immer noch – Angst, dass ich ihm weh tun könnte. Dass ich noch viel zu blind in vielen Dingen sein könnte. (Das sind ja auch Gründe – warum ich – kein Kind habe. Ich hatte Angst – genauso zu sein/zu werden wie meine Mutter).

Was meine Frage nach “sozialadäquaten” Verhalten angeht: ich habe erkannt, dass mich die Menschen – die mir dauernd einreden wollten (ich setze mich ihnen nicht mehr aus – wenn es sich vermeiden läßt) – ich solle jenes tun oder dieses – versuchen “mich zu erziehen” – so wie sie in ihrer Kindheit “erzogen” worden sind. Die Struktur, die Arbeit, der “Nutzen” für die Gesellschaft – das alles ist nichts anderes als “Erziehung(sfolgen)”.

Vor etlichen Jahren schrieb ich mal intuitiv: “Das Gegenteil von Leben ist nicht der Tod, sondern das Funktionieren.” Und da war immer das was ich wollte: Leben!

Viele liebe Grüße, E. N.

AM: Sie haben das Leben gewählt und wollen aus dem Funktionieren herauskommen. Das werden Sie auch erreichen, wenn Sie sich nicht mehr durch Medikamente zwingen lassen, zu funktionieren.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet