Empathie
Saturday 05 January 2008
Liebe Alice Miller,
nun sind schon 6 Monate vergangen, dass Sie meinen Brief an Sie mit einer für mich ganz wichtigen Antwort veröffentlicht haben. Ganz lieben Dank! Die ersten Tage, als ich den Brief im Internet sah, wünschte ich mir sehr, dass schnell ein neuer Brief dort erscheint, damit keiner diesen liest. Ich fühlte mich schuldig und ertappt – das bin ich – das habe ich geschrieben – jetzt stirbt meine Mutter – jetzt bin ich an allem Schuld – das darf bloss keiner sehen … doch wie wichtig es war, dass der Brief genau dort stand und dass Sie mir das „Recht“ einräumten, zu entscheiden, was erscheint und was nicht, merkte ich nach einigen Tagen/Wochen. Meine Kraft, das alles einmal auszusprechen, wurde nicht durch Vorwürfe und Ängste wieder klein gemacht, sondern Ihre Empathie und Ihre Bestätigung meiner Gefühle half und hilft mir, weiter hinzuschauen und zu fühlen. Und wenn ich ihn heute lesen, denke ich, ja, so ist es, alle können es wissen; und es ist auch nur ein Teil von allem, es ist viel mehr gewesen, ich habe mich in meiner Kindheit kaum wirklich spüren können, es geschah soviel, was mich geprägt hat.
Es ist mir gelungen, mein kleines Kind zu finden, dann liege ich im Bett und werde ganz ruhig, versetze mich in Kindheitssituationen und nehme mein ängstliches, stummes Kind in den Arm.
Und auch wenn es immer wieder Tage der Schuldgefühle gibt, abgelöst durch Tage der Trauer, bin ich froh, dass ich diesen für mich großen Schritt gewagt habe.
Der letzte Kontakt zu meinem Eltern war ein zorniges Schreiben an sie mit dem Hinweis, dass, wenn sie schreiben, dass sie mich lieben, mich einfach mal in Ruhe lassen sollen, mindestens 1 Jahr und mit dem Zusatz, „ich bin ja nicht tot“. Im November zum Geburtstag erhielt ich dann eine Karte. Außen stand vorgedruckt: „Mütter halten die Hände ihrer Kinder für eine Weile, ihre Herzen jedoch für immer.“ Und innen stand dann: „Liebe …, wir gratulieren Dir ganz herzlich zu Deinem Geburtstag und wünschen Dir alles Gute, noch viele spannende und gesunde Jahre mit Deinem „geretteten Leben“ und Deinem „wissenden Zeugen“ an Deiner Seite. Herzlichst und in Liebe Deine Mutti und Papa. Wir sind immer für Dich da – wenn Du magst“.
Da war ich wieder mehr als sprachlos. Sie hatte mir klar zu verstehen gegeben, dass sie meinen Leserbrief gefunden hatte, aber nicht nur das. Mehr fällt einer Mutter, die von Liebe redet, dazu nicht ein? Ach, ich hatte eine reflektierte, emphatische Antwort erwartet, wenn Sie schon meint, doch schreiben zu müssen. Aber wieder bin ich auf mich selber reingefallen, auf die Erwartungen des Kindes.
Und als dann zu Weihnachten noch eine ähnliche Karte mit „Unsere Kinder sind und waren uns immer das Wichtigste im Leben“ und „wir hoffen… und warten…“ kam (diese Pünktchen hinter dem Hoffen und Warten standen dort genauso) war ich wieder an einem ähnlichen Punkt. Zwischen Wut, Zorn, Schuldgefühlen, und Ernüchterung wechselten meine Gefühle. Ich las nochmals die Einleitung und das Tagebuch in Ihrem neuen Buch und dachte, wo sollen diese reflektierten Eltern herkommen. Eine Leserin schrieb mal in einem Leserbrief an Sie zu dem Tagebuch, dass sie das Klammern der Mutter kaum ertragen konnte. Da hatte ich mich gefragt, wieso klammern? Das sind doch die natürlichen Gedanken der Mutter, die arme Mutter… Und diese, meine Gedanken führten mich auf mich zurück. Wieso sah ich das so anders als die andere Frau? Wieso denke ich nur in den Gedankenwelten meiner Mutter?
… Ja, ich muss es mir eingestehen, ich habe keine empathischen Eltern, nicht so, wie ich es gebraucht hätte. Intellektuell verstehen kann ich das heute gut, beide Elternteile sind erstgeborene Kriegskinder mit einem Vater, der aus dem Krieg nach Hause kam, großgeworden in einer schweigenden Zeit, alles wurde verschwiegen, über das Leiden des Vaters in der Gefangenschaft durfte nicht geredet werden. Sie mussten schon früh kleine Erwachsene sein. Sie haben kaum eine Kindheit gehabt. Großgewordenen in einem Land der Täter, was nicht gesehen werden durfte.
Aber das ist für mich keine Entschuldigung. Sie sind heute erwachsen, genauso wie ich. Sie schreiben von Liebe und wollen doch nur die liebe Tochter zurück, die nichts sagt und früher immer so nett war. Doch das ist vorbei – zum Glück!
Ich las zum Ende des Jahres wieder „Das Drama des begabten Kindes“. Es hilft mir weiter, es führt mich immer wieder auf mich zurück, es leitet an, mich zu reflektieren, es ist ein sehr wichtiges Buch für mich. Und es sind dieses mal andere Stellen, an denen ich verweile und betroffen bin. Ich habe auch Ihre Bilder für mich studiert, der Wechsel zwischen Zerrissenheit, Härte, dann einem Durchscheinen von zarten Farben, dabei diese harten Kanten des Spachtels… wieviele Wege sind auch Sie für sich gegangen.
Ich selber male seit 22 Jahren und mit erschrockenen Augen sehe ich heute meine Bilder der ersten 12 Jahre… es sind zerschnittene Leinwände mit großen Rissen und Narben, dann wieder zugenäht, oder einsame Frauen ohne Augen, erst vor 10 Jahren, genau zu der Zeit, als ich meinen wissenden Zeugen kennen lernte, änderten sich die Inhalte und Farben.
Ich bin auf dem richtigen Weg, das spüre ich und möchte mich nochmals von Herzen bei Ihnen bedanken. K. S.
AM: Ja, Sie sind zweifellos auf dem richtigen Weg, auch wenn es Tiefen und Höhen gibt, aber es geht eben nicht anders, wenn man wirklich auf Lügen verzichten will und nein danke sagen kann. Und die Mühe lohnt sich, das scheinen Sie schon zu spüren.