Unterbrechung des Teufelskreises

Unterbrechung des Teufelskreises
Wednesday 01 August 2007

Liebe Alice Miller,

ich möchte Ihnen von meinen beiden Töchtern und mir schreiben. Für mich unfassbares ist geschehen. Ich bin ein Mensch mit vielen unberechtigten Schuldgefühlen, die mir schon als sehr kleines Kind aufgebürdet wurden. Es schien das einfachste zu sein mich unter anderem dafür zu benutzen. Aber an meinen beiden Töchtern (13 und 10) habe ich mich wirklich schuldig gemacht. Wie konnte es geschehen, dass ein Mensch wie ich, der sich gegen Ungerechtigkeit und für Frieden einsetzt und als Krankenschwester arbeitet, seine beiden Kinder in der Tat misshandelt? Alles ist tatsächlich so passiert, wie Sie es in Ihren Büchern beschreiben. Die ältere hat immer wieder eisige Ablehnung erfahren und die jüngere das Wechselbad einer extrem nähe bedürftigen, dann wieder aggressiven Mutter. Ich konnte ihre Wutanfälle nicht verstehen und habe oft zugeschlagen. Aufgrund meiner schweren Depressionen vollgepumpt mir Psychopharmaka, konnte ich ihnen keine Aufmerksamkeit schenken und sie nicht angemessen versorgen. Ich glaubte wirklich, dass ich meine Kinder liebe! Wie krank! Jetzt bricht es mir darüber täglich das Herz.
Ich hatte in meinem Leben etliche erfolglose Klinikaufenthalte und ambulante Therapien. Meine Symptome wie die Eßstörung und die Depression blieben davon unberührt. Endlich habe ich vor 2 Jahren eine Therapeutin gefunden, mit der ich wirklich große Fortschritte machen konnte. Ich habe mein inneres Kind gefunden, es ist schwer missbraucht und gedemütigt. Seit gut einem Jahr konnte ich mein Verhalten zu meinen Kindern verändern und ich bin immer noch total entsetzt über mich. Wie konnte ich nur so blind sein. Natürlich ist dieser Wahnsinn in Ihren Büchern erklärt, aber ich bin trotzdem fassungslos. Und der Verstand konnte mir nicht helfen. Erst als ich mit meinen Verletzungen in Kontakt kam, war ich in der Lage das schreckliche Ausmaß zu erkennen und mein Verhalten den Kindern gegenüber zu verändern. Ich habe bald darauf mit meinen Kindern das Gespräch gesucht und mich bei beiden entschuldigt. Ich musste ihnen einfach sagen, dass sie absolut richtig sind und ich schwere Fehler begangen habe. Ich konnte ihnen vermitteln, dass es jetzt nicht um mich geht, sondern um IHRE Verletzungen, die ICH ihnen zugefügt hatte. Es waren trotz allem sehr gute Gespräche und ich habe unverdiente Geschenke von meinen Mädchen bekommen, in dem sie sich ganz vertrauensvoll an mich gekuschelt und mir aufmerksam zugehört hatten. Seit dem geht es uns viel besser. Ich habe den Eindruck, dass sie sich jetzt in ruhe weiter entwickeln. Aber es wird sich doch erst später zeigen, womit sie zu kämpfen haben. Ich hoffe so sehr, dass beide als Erwachsene ein normales Leben führen können. Ich bin mir bewusst und dafür auch bereit, dass mich eines Tages ihre Wut und ihre Trauer treffen können. Damit sie heilen können, soll es so sein. Dann sind sie im Recht.
Natürlich sind meine Symptome nicht weg. Ich leide nach wie vor an Depressionen und bin suchtgefährdet. Der Alltag als alleinerziehende fällt mir sehr schwer. Das heißt, ich trau mich noch nicht die komplette Wahrheit zu fühlen. Einsamkeit und Angstattacken plagen mich. Ich möchte meine Mutter und meinen Stiefvater nicht mehr sehen und weiß, dass der nächste Schritt ist, die beiden damit zu konfrontieren. Sonst verrate ich mein inneres Kind immer wieder aufs neue. Es ist so schwer und ich habe große Angst davor. Aber dieser Kontakt und das „so tun, als wäre nichts“, sind Gift für mich. Meine Kinder mögen ihre Großeltern, sie sind jetzt seltsamer Weise menschlicher als damals, aber mein inneres Kind kann das nicht verstehen, es hat Recht. Das sind die beiden, die mich unter dem Deckmantel „Erziehung“ über viele Jahre mit Lust schwer demütigten. Für diesen Schritt muss ich jetzt Kräfte sammeln.

Ich grüße Sie in Dankbarkeit,
A.M.

AM: Das klingt ja alles sehr gut. Wichtig ist, dass Sie jetzt genau zu wissen scheinen, wo das Gift liegt, dass Sie lernen, sich davor zu schützen und sich nicht mehr mit Medikamenten und schön klingenden Worten darüber täuschen lassen wollen. Ihre starke Wut auf die Kinder galt doch Ihren Eltern, die Sie so gedemütigt haben, wie Sie schreiben, aber das zu spüren, machte Ihnen angst, zumal Ihre Eltern so taten und scheinbar noch tun, als ob nichts gewesen wäre. Ihre Töchter scheinen dieser Fassade zu glauben, und Sie möchten es auch so gerne tun können. Es ist gut, dass Ihre Therapeutin sich nicht täuschen lässt.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet