Zum Glück schließlich gemerkt
Monday 20 February 2006
Sehr geehrte Alice Miller,
vor einigen Jahren stieß ich auf Ihr Buch “Du sollst nicht merken”. Es folgten “Am Anfang war Erziehung”, “Das Drama des begabten Kindes” und nun “Die Revolte des Körpers”. Ich bin jetzt 47 und Ihre Bücher halfen mir sehr zu einer Zeit, in der ich meinen sexuellen Mißbrauch durch meinen älteren Bruder während meiner Kindheit entdeckte und mich diesem Thema in einer Therapie stellte. Meine Eltern waren in der DDR Lehrer und dem autoritären Erziehungsstil ihrer Eltern verhaftet. Sie verstranden sich nicht gut und meine Mutter flüchtete sich in den Alkohol. Während ihrer totalen Ausfallzeiten über Wochen übernahm ich für meine jüngeren Geschwister die Mutterrolle. Nach außen wurde ihre Krankheit natürlich geheim gehalten. Erst heute weiß ich, wieviel Kraft das kostete.
Sehr jung, mit 20 Jahren, bekam ich das erste von drei Kindern. Mit 27 wurde ich sehr krank (Neurose) und begann eine Psychotherapie, geheim, weil zu DDR-Zeiten alles was mit Psychologie zu tun hatte vom gesellschaftlichen Umfeld und der Familie sehr schnell stigmatisiert wurde. Mein Antrieb, mich zu stellen war, ich wollte eine gute Mutter sein, den Kreislauf durchbrechen und ich hatte Angst, meinen Suizidgedanken zu erliegen und so in die Fußstapfen meiner Mutter zu treten, nämlich nicht für meine Kinder da zu sein. Ich habe all die Jahre viel an mir gearbeitet. Heute könnte ich sagen, ich habe mein Ziel erreicht. Ich habe viel verändert, ein gutes, vertrauensvolles Verhältnis zu allen meinen Kindern. So, wie ich es mir immer gewünscht habe. Das war mir das Wichtigste.
Nur, besonders meine älteste Tochter, die bei meiner damaligen Therapie schon fast sieben Jahre alt war, hat mich auch noch ganz anders erlebt und ich glaube, sie trägt noch heute schwer an den Folgen.
Als meine Tochter geboren wurde, war ich 20. In der DDR gab es für Eltern zwei-drei Bücher über Kindererziehung, die das gängige Erziehungsziel der DDR-Regierung vertraten. In mir steckte eine große Ehrfurcht vor allen ärztlichen Autoritäten, die so viel klüger waren als ich und denen ich deshalb uneingeschränkten Glauben schenkte. Ich wollte ja eine gute Mutter sein, die alles richtig machte. Ich wollte vor allem alles besser machen als meine Mutter, mit viel Liebe und Zuwendung. Die Vorschriften der Ärzte in der Mütterberatung allerdings lauteten zum Beispiel: Den Säugling alle vier Stunden stillen, nicht früher und nicht später, zur Gewöhnung an einen regelmäßigen Rhythmus, wichtig für das spätere Leben des Kindes. Das Kind schreien lassen, vor allem Nachts, damit sich das Kind nicht daran gewöhnt, dass immer jemand kommt und damit es schneller durchschläft, denn das Kind braucht seinen Schlaf.
Ich machte alles “richtig”. Ich erinnere mich, dass ich verzweifelt vor der Kinderzimmertür stand, darin das schreiende Baby. Aber ich durfte es ja nicht andauernd herausnehmen. Ich zwang mich, draußen zu bleiben, obwohl mir vom Bauch her sfchon ganz schlecht war. Ich hatte nicht gelernt auf mein Bauchgefühl zu achten, es zu verstehen.
Dabei habe ich so viele Fehler gemacht. Wenige Mütter, wirkliche Ausnahmen, die etwas anders machten, wohl auch Kontakte in die damaliege BRD hatten und sich so anderweitig informieren konnten, wurden von den Ärzten gerügt, als schlechte, unverantwortliche Mütter hingestellt. Ich selbst war enorm verunsichert, konnte Schelte und Ablehnung durch ebendiese Autoritätspersonen nicht verkraften und poasste mich an.
Heue ist meine Tochter 27. Eine wunderbare, intelligente, mitfühlende junge Frau. Sie ist faszinierend und kann sehr sanft sein, gleichzeitig ist sie voller Wut und Aggression, ihr Körper spielt oft verrückt. Ihre
Stärke und ihre Schwäche nehmen extreme Gegenpole ein, zwischen denen sie von einer Minute zur anderen hin und her geworfen wird.
Sie lebt selbständig in einer eigenen Wohnung, kann sehr gut organisieren und bricht völlig zusammen, wenn von ihr erwartete Zuwendung, zum Beispiel von ihrem Partner nicht erfolgt. Ich bringe ihr Verhalten mit meinem damaligen Erziehungsstil in Verbindung. Ich sehe meine Tochter heute mit den Gefühlen des Säuglings, des Verlassenseins von der Mutter, der Einsamkeit und der Wut darüber, die heute bei geringen Anlässen zum Ausbruch kommen können.
Ich wollte meine Fehler, die ich jetzt so deutlich in ihren Auswirkungen sah, wenigstens zu einem kleinen Teil wieder gut machen und mit dem Risiko, wenn sie “merkt”, dass sich ihre Wut jetzt gegen mich richtet.
Ich sprach mit ihr darüber, erzählte ihr alles, gab ihr Ihre Bücher, las ihr daraus vor und riet ihr zu einer Therapie, die sie jetzt macht. Ich kann eine Verbesserung ihres Zustandes nur langsam erkenn., aber ich
weiß auch, dass dies einer langer Prozess ist.
Dennoch ich fühle mich als Opfer und Täter gleichzeitig. Ein Dilemma, mit dem ich bei jedem Ihrer Bücher schmerzhaft konfrontiert werde und was mir schlaflose Nächte macht. Ich habe mich schuldig gemacht. Sie schreiben sehr viel über die “bösen” Mütter und Väter. Was aber, wenn die Täter ihr Tun erkannt haben ? Was kann ich noch tun, um meiner Tochter zu helfen ? Ich wünschte mir ein Buch für die Mütter und Väter, die “gemerkt” haben und sich schuldig fühlen.
Ich danke Ihnen sehr für Ihre Bücher und dafür, dass Sie all Ihre Kraft für dieses Thema einsetzen. Ich habe Ihre Bücher schon sehr oft an Freundinnen und Freunde verschenkt und hoffe, dass Ihr Wissen um sich greift und Veränderungen schafft. Bei vielen jungen Eltern, mit denen ich beruflich zu tun habe, kann ich das erfreut, mit Respekt und Staunen schon beobachten.
Ich wünsche Ihnen Kraft und Gesundheit und verbleibe mit herzlichen Grüßen
AM: Es tut sehr weh, wenn wir feststellen, wie sehr wir irregeleitet wurden. Aber das lässt sich nicht mehr ändern, und Sie teilen dieses Schicksal mit der großen Mehrheit der Eltern. Zum Glück ist es Ihnen gelungen, Ihre Tochter zu einer Therapie zu bewegen, das gelingt nicht oft. Der Rest liegt jetzt an ihr. Und Sie können versuchen, sich nicht für etwas so sehr zu beschuldigen, was Sie nicht anders konnten, und dem Kind, das Sie waren, die Liebe und die Toleranz entgegenzubringen, die ihm fehlten. Darin wünsche ich Ihnen viel Erfolg.