Essen unter Zwang und das Mitgefühl von Tieren

Essen unter Zwang und das Mitgefühl von Tieren
Thursday 17 January 2008

Liebe Frau Miller, liebe Barbara,

ich halte mich sehr häufig auf Ihrer Internetseite auf, die Artikel etc. habe ich inzwischen allesamt gelesen und auch die Leserbriefe verfolge ich sehr regelmäßig. Ich möchte mich auch dieses Mal wieder für ihre einfühlenden Antworten und ihre klare Sicht bei Ihnen beiden bedanken und die Zeit nutzen, um Ihnen erneut zu schreiben.

In letzter Zeit hatte ich ziemliche Probleme mit meinem Magen. Mir war kurz nach Weihnachten so übel, wie schon seit vielen Jahren nicht mehr. Ich dachte, ich falle in Ohnmacht, ich konnte nichts mehr sehen, ich konnte mich nicht mehr auf den Beinen halten, alles hat ganz schwach gekribbelt, als läge mein Körper, als läge ich in den allerletzten winzigen Atemzügen. Mir hat mein Hals noch Tage nach dem Erbrechen weh getan und ich dachte immer wieder, ich würde einfach ersticken.
Es war so wie damals, als meine Eltern mir mit Gewalt Essen in mich hineinstopften, bis ich die Bissen im Mund nicht mehr hinunterschlucken konnte und all die Nahrung sich in meinem Mund sammelte und sie trotzdem Löffel um Löffel bzw. Gabel um Gabel nachschoben und mich anschrien, ich solle gefälligst kauen und schlucken, ich hätte aufzuessen, bis der Teller leer sei.
Und ich konnte nicht schlucken, weil mir schon so schlecht war und ich meinen Mageninhalt bereits in den Hals aufsteigen fühlte und weil ich mich nicht übergeben wollte, weil mir davon so schwindlig wurde und es so weh tat, jedes Mal und ich jedes Mal Panik hatte, dass es das letzte sein könnte, was ich tue, weil ich einfach in Ohnmacht fallen und nie wieder aufwachen würde.
Und meine Eltern sahen es nicht einmal, konnten sich kein winziges bisschen einfühlen und begegneten meiner Verzweiflung mit Aggression und Gewalt.
Ich habe das niemals verstehen können und wusste nie einen Weg hinaus und wenn ich jetzt daran denke, tut es so weh, dass ich weine und auch nicht weiß, was ich machen soll und wie meine Eltern so grausam sein konnten.
Ich hatte zu fressen. Sie stopften, sie schrien dabei, sie umklammerten mich, sie drückten mir mit Gewalt den Mund auf, dass es weh tat im Kiefer (ich hatte noch Jahre später manchmal Kieferschmerzen und das Gefühl, mein Zunge hätte keinen Platz in meinem Mund und wäre verkrampft und ich würde ersticken), sie schlugen dabei auf meinen Kopf und ich weinte und konnte im Weinen und mit aufgedrücktem Kiefer noch weniger kauen und schlucken.

Als Kind war ich immer schlank, mit neun/zehn Jahren dann bin ich sehr dick geworden, was kein Wunder ist bei dieser Tortur und den Folgen daraus: Abschalten beim Essen, nichts mehr wahrnehmen davon, Verlust des Gefühls von Hunger und Sättigung.
Was noch perverser ist als das eben beschriebene, ist ein weiteres Aspekt des Grauens: Ich schrieb Ihnen bereits davon, dass meine Familie Tiere vor meinen Augen ermordete. Tiere, die ich geliebt habe, mit denen ich meine Zeit verbrachte, wir hatten mit der Zeit so etwas wie eine Verständigung entwickelt. Bestimmte Worte, auf die sie reagierten und bestimmte Zeichen, die sie gaben, wenn sie etwas bestimmtes wollten.
Vor allem hatte ich bei dem Blick in ihre Augen und bei dem Geruch ihrer Haut das Gefühl, zu Hause zu sein, wirklich zu Hause. Sie wurden genauso schlecht behandelt wie ich: eingepfercht in Ställe, gemästet und mit Futter gefüttert, von dem einem nur schlecht werden konnte, was sie aber essen mussten, weil es nichts anderes gab, geschlagen, gedemütigt.
Ich erinnere mich daran, wie ich in ihren Augen eine Anwesenheit sah, nicht die Leere, die mir bei meiner Familie entgegenschlug oder die Stahlkälte.
Ich weiß nicht, ob Sie jemals erfahren haben, wie es ist, klar und deutlich zu sehen, dass und wie Tiere fühlen. Ich jedenfalls sah es und begriff durch ihre Reaktionen und ihren Ausdruck, dass auch sie litten und dass demzufolge das, was ihnen und auch mir angetan wurde, Leid war und keineswegs Normalität.
Wenn ich je Verbündete hatte, dann waren es diese Tiere, keine Menschen, in deren Augen sah ich nur Leere und die Stahlwand.

Genau jene Wesen, mit denen etwas wie eine ähnliche Lebenswelt und eine emotionale Verbundenheit möglich war und bei denen ich fühlte, dass sie diejenigen waren, die noch fühlten in einer Kindheitswelt voller emotional betäubter, wurden getötet. Und ich bin dazu gezwungen worden, sie zu essen.
Ich musste tote Teile eines Körpers, eines Wesens, das ich geliebt habe, essen.
Ich wollte das nicht. Wer will schon seine Freunde essen?
Mit 14 bin ich unter großen Widerständen seitens meiner Familie Vegetarierin geworden, später Veganerin.

Ich erinnere mich daran, wie es einmal, ich war wohl 13, Erdbeerkuchen gab und meine Mutter die Erdbeeren von meiner Oma bekommen hatte. Ich aß einen Bissen dieses Kuchens, aber er schmeckte nach rohem Schweinefleisch, meine Oma hatte die Erdbeeren in der Gefriertruhe neben den toten Schweinen gelagert und die Erdbeeren hatten den Geschmack angenommen.
Ich musste mich sofort übergeben.

Ich kann nicht beschreiben, was es für entsetzliche Gefühle ausgelöst hat, neben dem erzwungenen Essen auch noch ausgerechnet die Wesen essen zu müssen, die ich geliebt habe und die die einzigen gewesen sind, bei denen ich jemals so etwas wie Mitgefühl und Verständnis von beiden Seiten aus empfunden habe.
Das war eine Vergewaltigung, eine Pevertierung jedes Gefühls in mir und mit das schlimmste, was mir meine Eltern überhaupt hätten antun können. Ich hatte nicht einmal Raum, um um meine ermordeten Freunde und meine Hilflosigkeit, wie ich daneben stand und überhaupt nichts für sie tun konnte, obwohl ich wollte, zu trauern oder ob der Grausamkeit meiner Familie Zorn zu spüren. Ich musste das Produkt des Mordes essen und es wurde so dargestellt, als wären sie dafür gestorben, dass ich etwas zu essen hatte und diese Nahrung für mein Überleben bräuchte. Ich habe mich jahrelang als Mörderin gefühlt und oft geglaubt, sie würden noch leben, wenn es mich nicht gäbe.

Nun, Jahre später, habe ich endlich wieder ein Gefühl für Hunger und Sättigung und Geschmack entwickelt, ich stopfe nicht mehr zwanghaft und unanwesend Essen in mich hinein. Dadurch habe ich einige Kilos verloren. Und durch die Abnahme und das nun angenehme Gewicht, das sich eingestellt hat, kann ich wieder mehr fühlen. Ich fühle meine Knie und meine Beinen, was mir früher, seit ich etwa neun/zehn war, nicht mehr möglich gewesen ist, weil die Fettschicht meinem Gefühl nach gedämpft hat. Aber manchmal kann ich das kaum ertragen, weil es so weh tut, weil ich sehe, was sie meinem Körper angetan haben.

Ich sah damals auch, wie grauenhaft es in den Melkställen war. Wie Kühe mit viel zu großen und viel zu schweren Eutern in engen Gittern standen, in ihrem eigenen Kot und dem der Nachbartiere. Die Tiere konnten sich kaum bewegen, sowohl aus Platzmangel als auch aufgrund der riesigen Euter. Viele waren entzündet. Ich sah sie Kälber gebähren, hörte sie dabei schreien, sah den Arzt, der in sie griff, und das kleine, mit Blut und Haut umgebene Tier herauszog und es auf den Boden fallen ließ. Ich kann das Geräusch noch immer hören.
Und ich sah die Blicke der Muttertiere. Die ihre Kinder ansahen und für einen Moment flackerte bei einigen etwas warmes auf, aber sie wandten fast alle den Blick wieder ab und das war der Moment, in dem etwas in ihren Augen brach, eine Mauer baute sich auf, da war keine Anwesenheit mehr, kein Leben, sie begannen innerlich zu sterben. Als hätte jemand eine Kerze in ihnen ausgepustet. Alle Jungtiere wurden nahezu sofort von ihnen entfernt und entweder gleich getötet oder ein paar Wochen später. Und die ganzen Kühe wussten das und fast keine von ihnen hat es gewagt, Wärme für das dem Tod geweihte Kind zu fühlen.
Ich habe geweint, wenn ich das gesehen habe, diese Vergeblichkeit, diese Grausamkeit, dieses Sterben, dieses Gefühlsabtöten.
Ich erinnere mich an eine Kuh, die rebellierte. Ich habe keine Bilder dazu, nur Geräusche und Gefühle.
Ich höre sie aufbegehren, als man ihr das Kind nehmen wollte, ich höre sie an dem Gitter rütteln, ich höre sie lauthals treten und schreien, ich habe nicht gewusst, dass Kühe so schreien können.
Aber es half nichts, ihr Kind wurde umgebracht.
Ich muss immer noch weinen, wenn ich daran denke.
Und in dem Moment damals konnte auch ich den Zorn fühlen, ihre Rebellion hat etwas in mir gerade gerückt.

Ich habe mich damals gefühlt, als wäre ich in einem KZ aufgewachsen. Eins, in dem nur ich und eine Vielzahl an Tieren inhaftiert waren. Wir alle hatten keine Stimme. Und niemand sah mich und niemand sah meine Mithäftlinge, die ja angeblich sowieso “nur Tiere” und “zum Essen da” waren. So wie ich “nur Kind” und “zum erziehen” da war. Wir alle hatten keine Rechte, wir alle waren vollständig ausgeliefert, wir alle hatten anderen zu nutzen, ganz egal was das für uns bedeutete.
Ich sehe diese Blindheit, diese Gefühlstaubheit und die Grausamkeit nicht nur Kindern gegenüber, ich sehe sie auch Tieren gegenüber. Und damals wie heute hat man mich nur ausgelacht, wenn ich erklärt habe, dass Kinder und Tiere sehr wohl fühlen und dass sie keine niederen, zu nutzenden Wesen sind und endlich entsprechend mit Wärme und Respekt und Mitgefühl behandelt werden sollten. Ich habe aufgehört, es zu erklären. Wer wissen will, wird es tun. Wer es nicht wissen will, wird es auch mit den besten Erklärungen der Welt nicht verstehen. Was man nicht in sich selbst fühlen will, wird einem kein Wissen der Welt vermitteln können.
Bis heute kenne ich nicht nur niemanden in meiner direkten Umgebung, der das Grauen seiner Kindheit wirklich fühlt und sich darauf einlässt, sondern auch niemanden, der das Grauen, das an Tieren, die genauso ausgeliefert und ohne Stimme sind, begangen wird, ernst nimmt und fühlt. Ich habe beides erlebt und mein persönliches KZ ist voller Leid, Tod, Vergewaltigungen (auch die Tiere wurden sexuell bedrängt), Mord, Drill, Zwang.

Ich habe mich lange gefragt, ob es damals nicht doch einen Menschen gegeben hat, der so etwas wie ein wissender Zeuge gewesen ist, aber mein Gefühl sagt immer wieder: nein, den gab es nicht. Aber es gab Tiere. Auch diese können das Gefühl vermitteln, Verständnis zu haben und Wärme. Das ist wortlos, aber es ist echt.

Herzliche Grüße an Sie, Frau Miller und Barbara, M. T.

AM: Ihr Brief ist erschütternd, er zeigt, wie die Tiere Ihre Seele gerettet haben, wie sie Ihnen ermöglicht haben, Ihre Fähigkeit zu fühlen, trotz der Barbarei Ihres Elternhauses zu erhalten. Man liest immer wieder, wie die Eltern durch den Zeitmangel, besonders in Bauernhöfen, “gezwungen” sind ihre Kinder mit Schlägen zum Gehorsam zu erziehen, damit sie arbeiten und nicht faulenzen. Aber wenn man bei Ihnen liest, wie diese Eltern sich Zeit nehmen, um Sie zu zwingen, Ihren Teller leer zu essen, dann realisiert man, wie viel Zeit und Kraftaufwand Eltern aufbringen können, um ihr Kind zu zerstören und zu beherrschen. Das nennt man Erziehung. Ihre Geschichte wirft ein deutliches Licht auf die Heuchelei und Ignoranz der ganzen Gesellschaft, die heute Triumphe feiert, leider. Auch in den Deklarationen der Politiker, die ihren gefährlichen Unsinn unbekümmert zur Schau stellen, weil sie nicht wissen, dass sie mit ihren Behauptungen die Pädagogik ihrer Eltern denunzieren, die ihren Hass hinter den Strafen angeblich zum Besten des Kindes versteckten. Wie schrecklich wurden Sie von Ihren Eltern gequält und mussten als Kind glauben, dass man es gut mit Ihnen meinte. Doch im Gegensatz zu den unbedarften Politikern, haben Sie als Erwachsene das Spiel durchschaut. Ganz herzlichen Dank für Ihren Beitrag.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet