Entsetzen über die Verletzung kleiner Menschen

Entsetzen über die Verletzung kleiner Menschen
Saturday 11 March 2006

Liebe Alice Miller,
seit 30 Jahren begleiten mich Ihre Bücher. Ich bin dankbar, dass ich sie zu einer wichtigen Zeit meines Lebens entdeckt habe und eine Unterstützung für mein eigenes Empfinden (eigentlich eher Denken, um’s Empfinden kämpfe ich noch) daraus bezogen habe. Heute mit 50 Jahren stehe ich vor einem zum Teil auch selbst verursachten Trümmerhaufen und kämpfe um eine Existenz, von der ich nicht die geringste Vorstellung habe. Gerade heute bin ich über Google auf Ihre Seite gekommen, habe die Lebensgeschichte von W.B. gelesen und da ich noch unter dem Eindruck des vorher gerade Gesehen und dieses Berichtes stehe, habe ich das Bedürfnis, irgendwo mein Entsetzen über die alltägliche Banalität der Verletzung kleiner, hoffnungsfroher, lebensneugieriger Menschen auszudrücken.
Ich selbst bin nur mit großer Mühe älter geworden, bin aber nicht so gewachsen wie wohl gut für mich gewesen wäre, es waren zu viele Heckenscheren im Einsatz. Die Verletzungen durch Eltern sind bestimmt die massivsten, aber die Familien- und Gesellschaftsstrukturen sind auch nicht zu verachten. Diese allgemeine Verabredung, die von wachen Kinderaugen sofort als Lüge enttarnt wird, bildet eine so uneinnehmbare Festung, dass es mich wundert, wie wenig Wahnsinnige wir eigentlich produzieren. Ich selbst hatte mit Mitte 30 eine Phase, die derart stark mit Selbstzweifeln und Schuldgefühlen durchdrungen war, dass ich mich im ersten Impuls sofort verantwortlich gefühlt habe, wenn z.B. die Feuerwehr wegen geparkter Fahrzeuge nicht durchkam- obwohl ich im Parkhaus stand!
Vor einiger Zeit habe ich ein Geschäft gegründet, in dem ich Kinderkleidung anbiete. Die Beobachtungen, die man hier machen kann, wenn man denn hinschaut, sind so unglaublich, dass ich manchmal versucht bin, an Stelle mancher Kinder zu schreien, widersprechen oder treten. Solange sie noch sehr klein sind, bekommt man meistens noch ungebrochene, strahlende Augen zu sehen und es ist wunderbar, die Vielfalt in den Wesen dieser kleinen Menschen zu sehen. Je älter sie sind, desto häufiger sind die Augen schon verhalten, manchmal verzweifelt und auch schon ergeben oder gebrochen. Wissen Erwachsene eigentlich noch, dass Worte bei Kindern eine ganz andere Bedeutung haben? Weiß eine Mutter eigentlich, was sie bei ihrem Kind anrichtet, wenn sie 10x sagt nur noch einmal anprobieren? Ein Vater setzt sich und lässt seine Tochter von der Mutter xmal umziehen damit ein lächerliches Sommerkleid gekauft wird. Die Tochter ist schon so reduziert, dass sie diese unangenehme Situation mit 9 Jahren über sich ergehen lässt. Was ihr gefällt, interessiert keinen, die Mutter benimmt sich wie ein serviler Erfüllungsgehilfe, Vater thront im Sessel und gibt zum Besten, wie er sich seine Tochter vorstellt.

Wenn doch so einfache Dinge schon eine empfindliche Seele bei ständiger Belastung tatsächlich tiefgreifend verletzen können, kann ich nicht verstehen wie Menschen überhaupt so roh sein können. Unsere Gesellschaft versucht sooo korrekt zu sein, die Gutmenschen Europas und der USA kümmern sich um die entferntesten Punkte dieser Welt und dort wo Liebe in einer Beziehung angemeldet wird, lässt man sich so verantwortungslos gehen?

Ich würde gerne etwas dafür tun, damit Menschen hier besser hinsehen. Vielleicht bin ich noch nicht soweit. Meine Kindheit war lieblos, demütigend, zum teil brutal. Die Tatsache, dass meine Mutter mich nicht wollte und ich dadurch von meinem netten, aber schwachen Vater im Tantenkreis untergebracht wurde, hat mich ohne große Bindungen groß werden lassen. Heute meine ich aber, dass mir das auch Rudimente meiner eigenen Wahrnehmung erhalten hat, da ich sehr früh selbst für mich einstehen musste. Von meinen Eltern bin ich immer nur mit meinen Mängeln konfrontiert worden, Menschen sollte ich nicht belästigen, aber trotzdem musste ich für jeden Anspruch herhalten. Meine jüngere Schwester hat mit 5 Jahren angefangen auf Stressituationen mit Epilepsie zu reagieren, sie war immer zarter im Erscheinungsbild und verlangte allen Rücksicht ab- was ich teilweise beneidete. Später entwickelte sie eine geistige Behinderung, weil unsere Mutter dem Arzt nicht sagte, dass sie die Medikamente eigenmächtig abgesetzt hatte und erst sehr lange und schwere Anfälle so viel Angst bei ihr verursachten, dass sie sich an einen Arzt wandte. Mit 14 hielt ich meiner Mutter die Arme bei einer Prügelattacke fest und sagte mit eiskalter Stimme, dass ich das nächste Mal zurückschlagen würde. Mir wird heute noch ein bisschen mulmig, wenn ich daran denke. Zwar war ich selbst fast mehr überrascht über meine Stärke als meine Mutter, aber die Schuldgefühle für diese „Attacke“ kosteten mich endgültig mein Gleichgewicht. Ich besuchte ein Gymnasium, was ich dem persönlichen Einsatz und der Überredungsgabe meiner Grundschullehrerin verdankte. Mädchen sind ja geistiger Nahrung nicht würdig. Von da an entstand dieses Gefühl, völlig unberechtigt und sinnlos auf dieser Welt zu sein und einem wirklich guten Menschen den Platz weg zu nehmen. Bis dahin eine recht gute Schülerin, versank ich zunehmend in Unzulänglichkeit und Faulheit und schlängelte mich mit meinen Halbheiten, einem ewigen „Du solltest und Du könntest-aber“ durch die Jahre. Natürlich habe ich einen widerlichen Fassadenheini geheiratet und bekam ein Kind.

Da passierte etwas. Alles, was ich immer schon wusste und wie eine tiefgefrorene Suppe irgendwo in der Truhe verschwunden war meldete sich angesichts der Dinge, die sich abzuspielen begannen. Die Familie stürzte sich auf dieses Kind und teilte es ein und auf und jeder liebte es, das ach so süße Ding und ich merkte sooo deutlich den Wettkampf hinter dem Getue. Plötzlich wollte jeder dieses Kind auf seine Seite ziehen. Jeder hatte schon Vorstellungen von ihrem Wesen, wie sie leben sollte, was sie essen muß, die Beispiele sind endlos. Obwohl ich eigentlich ein Zombie war, begann ich mich für sie aufzurichten. Das konfrontierte mich natürlich auch mit meinen verschlossenen Gefühlen und Sie können sich wohl vorstellen, wie unbeholfen und ziellos das anfing. Für meine Tochter wollte ich ein Schutz vor all dem sein, damit sie die nötige Zeit und Unantastbarkeit für sich gewinnt, zu werden wer sie ist. Damit habe ich auch mir über die Jahre geholfen, aber sie hatte doch einen Krüppel als Mutter. Mein Mann kultivierte an diesem Kind seinen Jähzorn und Unberechenbarkeit. Dem konnte ich mich plötzlich entgegenstellen und ich kämpfte nach allen Seiten, aber am meisten mit mir und diesen „Selbstverständlichkeiten“, denen man erst auf die Schliche kommen muß. Als meine Tochter 1Jahr war, hatte ich Nackenstarren, die mich bewegungsunfähig machten und ein Arzt mir sagte, dass sei seiner Meinung nach psychosomatisch. Obwohl ich das nicht glauben konnte, ging ich zu einem Therapeuten, der mich einen Persönlichkeitstest machen ließ, und nach der Auswertung sagte, ich sei völlig in Ordnung und die Probleme liegen nicht bei mir. Das war für mich wie eine Offenbarung, ich entwickelte eine Kraft und gab meinen Ansichten eine neue Perspektive. Der gute Mann hat nicht mal an der Oberfläche gekratzt und trotzdem waren diese 3 Stunden sehr wichtig für mich. Ich fing an, auch Ihre Bücher anders zu lesen, jedes Mal kam die eine oder andere Minimalentwicklung zustande und so bewege ich mich im Gänsefüßchen- Tempo durch diese Leben. Meine Tochter ist heute 20 und hat sicherlich auch noch ihr eigenes Päckchen. Im Alter von 7 bis 12 Jahren war ich mit ihr allein, aber ihr Vater „liebte“ uns zu sehr, um uns einfach gehen zu lassen. Seine Manipulationen stellten mich vor die Wahl, mich im Interesse meines Kindes oder meiner Wünsche zu entscheiden. Ich denke, man sollte Kinder keinem schmutzigen Krieg aussetzten, besonders wenn es notwendig ist, soviel Verstand zu retten, dass man sich dann wieder selbst helfen kann, wenn die Bindung sich von selbst ausgewachsen hat. Wenn ich mir etwas zu Gute halten darf, dann dass ich nicht gelogen habe, wenn meine Tochter mich fragte, aber mir große Mühe gab, dabei auch nicht zu manipulieren. Ich beneide sie manchmal um ihren klaren Blick und Entscheidungsfreiheit, mit der sie lebt. Das möchte ich für mich auch irgendwann erreichen. Einmal einfach etwas tun, ohne sich ständig in Frage zu stellen, ohne diesen kleinen Mann im Ohr!

Auch mein Leben spielte sich für die Umwelt angepasst ab, und nur wer wirklich sehen wollte, konnte die Zeichen lesen. Diese Menschen meiden aber so eine Umgebung – aus gesundheitlichen Gründen. 95% meiner Umgebung könnten mit dieser Darstellung gar nichts anfangen, sie würden mich sogar der Lüge bezichtigen. Ich sehe manche Paare in Restaurants oder Streitende im Rückspiegel des Autos, Eltern mit Kindern beim Ausflug etc und kann so viel erkennen. Früher habe ich selbst in der Inszenierung gewirkt – auch als ich nicht gewollt habe und am meistens als ich gar nichts gewollt habe. Jetzt bin ich auch ziemlich allein, aber ich fühle mich nicht mehr so (oft) einsam und verzweifelt. Dieses Leben werde ich darangeben, auszumisten. Noch kann ich nicht sagen, wie wohnlich es bei mir werden wird.

Ich danke einer sehr klugen und mutigen Frau und erkläre jetzt einfach nicht, warum dieses mail so geworden ist. Mit allen guten Wünschen
K.H.

AM: Ich danke Ihnen sehr für Ihr Schreiben und möchte Ihnen empfehlen, mein letztes Buch, Die Revolte des Körpers, zu lesen, wenn Sie es noch nicht kennen. Ich wünsche Ihnen viel Glück auf Ihrem Weg, den Sie so mutig und kraftvoll begehen.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet