Folgen der Verdrängung

Folgen der Verdrängung
Monday 24 November 2008

Liebe Frau Dr. Miller,
ich bin sehr froh, auf Ihre Website gefunden zu haben, und dass es die
Möglichkeit gibt, Sie persönlich zu kontaktieren und zu fragen.
Ich befasse mich seit längerer Zeit mit Ihren Büchern und wir (mein Freund
und ich) sind begeistert von ihnen und Ihre Thesen leuchten uns ein.

Ich leide schon seit längerer Zeit unter vielen psychischen und körperlichen
Symptomen, angefangen hat es in der Kindheit mit Depressionen und Ängsten, vor
allem Kontaktschwierigkeiten und Angst vor anderen Kindern. Ich wurde daheim
sehr oft von meiner Mutter geschlagen und verbal gedemütigt, und von meinen
jüngeren Schwestern traktiert – meine Mutter war immer auf deren Seite, ich
wurde für die geringsten “Vergehen” – z.B. wenn ich mich gegen sie
wehrte, verprügelt.
Ich muss sagen, ich hasste schon damals meine Schwestern (und hätte sie wohl
am liebsten umgebracht), sowie meine Eltern, vor allem meine Mutter, gegen die
ich Mordgedanken hegte, später entwickelte ich dann Suizidgedanken – denn mit
ihr auf derselben Erdkugel zu leben war für mich nicht zu ertragen.

Überhaupt hegte ich schon seit Jugend an eine große Verachtung für meine
gesamte Familie, vor allem meine Mutter und deren Mutter, sowie deren
Geschwister. Ein Onkel – ein Bruder meiner Mutter – pflegte mich beim Schwimmen
immer im Wasser unterzutauchen oder im Stall einzusperren – ich verachtete und
fürchtete ihn.

Möglichst früh, mit 18, zog ich aus dem Elternhaus aus, da ging es aber mit
meinen Problemen erst so richtig los. Ich bekam regelrechte Panikattacken, die
von Jahr zu Jahr schlimmer wurden, bis ich zu einem Psychiater ging, um sie
loszuwerden. Eine Zeitlang ging das gut, bis ich die Tabletten nicht mehr nehmen
wollte, zumal sie gegen meine Depressionen nicht wirkten. Seitdem habe ich an
Tabletten so ziemlich alles durch – zumindest die angeblich
“harmlosen” Sachen wie SSRI.

Nach längerer Arbeitsunfähigkeit wegen meiner Ängste und Panik nahm ich eine
Arbeit auf und merkte ziemlich schnell, dass ich heillos überfordert war. Mit
den Menschen dort kam ich überhaupt nicht zurecht, ich verachtete sie alle und
gleichzeitig hatte ich Angst vor ihnen und was sie von mir denken könnten. Ich
vertrug keine, nicht die geringste Kritik (wie bei meiner Verwandtschaft, wo ich
oft heulte, wenn ich kritisiert wurde). Überhaupt kann ich jede Form von Wut
nur mit Heulen ausdrücken. Wenn ich aggressiv werde, kommen mir schon die
Tränen.

Jedenfalls haben sich während meiner Berufstätigkeit starke somatische
Beschwerden eingestellt – Rücken- und Nackenschmerzen, die zum Schluss nicht
mehr erträglich waren, Migräne, zum Schluss täglich, Schwindel und zeitweise
Übelkeit hatte ich ohnehin schon vorher.
Die Depressionen wurden so unglaublich stark, ich weinte jeden Morgen darüber,
dass ich aufgewacht bin und wäre am liebsten nie mehr aufgewacht. Ich
überlegte schon fieberhaft, was ich einnehmen könnte, um nie mehr aufzuwachen.
Der Tod meines Vaters, den ich sehr liebte, der mir als Einziger jemals
Verständnis und Zuneigung entgegengebracht hatte, ließ mich in ein tiefes Loch
fallen. Ich wünschte, ich wäre statt ihm gestorben und fühlte eine große
Schuld, weil ich ihm in seiner Einsamkeit vor seinem Tod nicht besser beistehen
konnte (ich fühlte mich von seiner Verletzlichkeit im Krebs-Endstadium total
überfordert).

Meine Verachtung für meine Mutter und sonstige Verwandtschaft
mütterlicherseits hat sich seit meiner Kindheit nur verstärkt. Ich finde deren
ganze Einstellung und ihre “Werte” absolut und von Grund auf
lächerlich. Vor allem beherrscht mich eine unglaubliche Wut, wie sie mich und
meine Schwestern als Kinder behandelt haben und wie sie überhaupt wehrlose
Wesen (wie z.B. auch Tiere) behandeln.

Mit meinen Schwestern, mit denen ich mich heute besser verstehe (weil ich ihnen
einiges nachsehe und wir dieselbe Vergangenheit teilen), kann ich darüber nur
bedingt reden, denn sie banalisieren die Taten meiner Mutter und haben Mitleid
mit dem Rest der Verwandtschaft.

Mit vielen Freunden habe ich schon darüber gesprochen (mein Freund kann meine
Position voll nachvollziehen), viele von ihnen wurden selber geschlagen und
sehen das Ganze nicht so tragisch.

Was mich nach der Lektüre Ihrer Bücher sehr beschäftigt, ist die Frage,
warum es mir, die ich die Schläge und Demütigungen meiner Mutter meist nicht
verdrängt habe, sondern immer als eine bodenlose Frechheit und Gemeinheit
empfunden habe (genauso hat es sich nämlich angefühlt), und die ich ihr nie
geglaubt habe, dass das “gut” für mich sein soll und ich nur so eine
soziale Person werden könnte, warum es mir also schlecht geht und ich so starke
Depressionen und körperliche Signale habe, während meine Schwestern, die etwa
genauso stark wie ich misshandelt wurden, und das Ganze als “nicht so
schlimm” und “sie hat sich ja geändert” beurteilen, keine so
starken Symptome aufweisen.

Eine meiner beiden Schwestern ist sogar in der Lage, vollzeit zu arbeiten und
hat daneben mehrere Hobbies und arbeitet am Wochenende als Sanitäterin.
Wenn ich unter der Woche schon 20 Stunden arbeiten muss, fühle ich mich so
fertig, dass ich den Rest der Zeit nicht mal mehr in der Lage bin, einzukaufen
oder aufzuräumen, geschweige denn irgendeinem Hobby nachzugehen (es
interessiert mich sowieso keines).

Eine meiner Freundinnen hat mir ihre in der Kindheit erlittenen Misshandlungen
beschrieben, und gesagt, dass Schläge so an der Tagesordnung waren, dass sie
sie auch ohne Begründung “einfach nur so” bekommen hat – es sei etwas
ganz Normales gewesen.
Sie meint selbst, es habe ihr eigentlich nicht geschadet – sie hat es aber
abgelehnt, dasselbe bei ihren eigenen Kindern zu tun – aber objektiv gesehen
habe es ihr nichts ausgemacht. Auch diese Freundin von mir hat keine
Depressionen oder sonstige psychische Probleme.

Ich frage mich, wie das sein kann. Aus Ihren Büchern meine ich gelernt zu
haben, dass durch die Verdrängung und Verleugnung der Misshandlungen psychische
Störungen entstehen müssten.
Es kann sein, dass ich Vieles aus meiner Kindheit verdrängt habe, an vieles
jedoch kann ich mich sehr gut erinnern und die Wut und Verzweiflung aus
damaliger Zeit ist mir noch gegenwärtig.
Ich war nie der Meinung, dass die Schläge meiner Mutter vertretbar seien und
habe dieses Verhalten immer abgelehnt. Noch heute bin ich ihr darüber böse,
weil ich der Meinung bin, dass es durchaus dazu beigetragen hat, dass ich
keinerlei Selbstbewusstsein und Durchsetzungsvermögen besitze. In Ihren
Büchern fühlte ich mich verstanden und aufgehoben.

Die Tatsache aber, dass meine Schwestern und meine Freundin, die wie ich diese
Demütigungen erlitten haben und sie ganz offensichtlich herunterspielen und
verdrängen, keinerlei oder nicht so starke psychische Probleme haben, verstehe
ich nicht. (Nicht, dass ich es ihnen wünschen würde)

Kann es sein, dass ich einfach von meiner Persönlichkeit her schon irgendwie
empfindlicher und sensibler bin als sie und deshalb das Verhalten meiner Mutter
solche Folgen bei mir hatte?

Vor allem die ältere meiner beiden jüngeren Schwestern müsste noch viel
schlimmere Symptome haben als ich selbst, da sie mindestens so arg misshandelt
wurde wie ich (mein Vater erzählte mir gar, meine Mutter hat sie geschlagen, um
ihn zu erpressen) und eine “gute Verdrängerin” ist. Wenn ich mit ihr
darüber reden will, blockt sie gleich ab und sagt, das interessiere sie nicht
mehr, das sei schon so lange her und vergangen und vergessen. Gerade bei ihr
müsste sich daher ein “Defizit” zeigen, sie lebt aber wie gesagt,
ohne Probleme, arbeitet 8 Stunden täglich und geht nebenbei ihren Hobbies nach.
Bis auf ihr Abblocken bei solchen Themen wirkt sie sehr ausgegelichen, sie ist
nicht so weinerlich wie ich, hat ihre Gefühle im Griff, unternimmt ständig was
mit unserer Familie, als sei nichts passiert!

Auch meine Mutter selbst wurde schwer misshandelt und meiner Meinung nach merkt
man es ihr auch an – in ihrer Art und wie sie selber mit uns Kindern umgegangen
ist – aber auch sie hat keine psychischen Probleme wie Depressionen oder
Panikattacken, und ebenso keine körperlichen Symptome.

Diese Tatsachen stimmen mich sehr nachdenklich, vor allem im Vergleich mit mir,
die ich entgegen der Forderungen seitens meiner Familie nicht gewillt bin, das
alles einfach so hinzunehmen und zu vergessen. Irgendwie bin immer nur ich das
schwarze Schaf in der Familie (ich bin laut den Anderen auch immer an allem
schuld, auch wenn es noch so lächerlich ist), und bleibe es, obwohl ich mich
mit meiner Rolle nicht abfinde und einfach so schlucke, was mir angehängt wird.

Dieser ewige Kampf macht mich ehrlich gesagt auch sehr müde, ich habe nicht
die Kraft, mich wie bisher ständig gegen meine Familie aufzulehnen (den Kontakt
habe ich mittlerweile auf Eis gelegt), und daneben meine psychischen und
körperlichen Symptome zu ertragen.

Kurz gesagt: ich verstehe nicht, warum meine Symptome stärker sind als die
anderer Menschen, die ihre Vergangenheit offensichtlich so viel mehr verdrängen
als ich es tue.

Mir ist das alles unbegreiflich, und ich würde mich sehr freuen, wenn Sie dazu
Stellung nehmen könnten bzw. mir sagen könnten, warum diese Diskrepanz besteht
und was ihre Ursache sein könnte.

Herzliche Grüße und die besten Wünsche an Sie
A.H.

AM: Vermutlich gibt es mehrere Gründe, weshalb Sie mehr unter Ihrer Mutter leiden als sie und Ihre Schwestern. Immerhin hat Ihre Mutter einiges an den von ihr erlittenen Misshandlungen an Ihnen und den anderen Kindern abreagiert. So braucht sie ihre Verdrängung nicht aufzuheben und bleibt gesund und munter. Sie beschreiben Ihren Vater als liebend, aber es ist nicht klar, weshalb er Sie nie vor dieser grausamen Mutter beschützt hat. Kann es sein, dass hier noch ein Stück Verdrängung Ihren Körper quält? Sie konnten sich ja die ganze Wahrheit kaum leisten, da Sie durch Ihre Mutter so bedroht waren, dass Sie hätten sterben müssen ohne die Illusion, von Ihrem Vater geliebt gewesen zu sein. Das alles sind nicht meine Behauptungen, viel mehr meine Fragen an Sie. Denn es KÖNNTE sein, dass DIESE Verdrängung, die damals sicher lebensrettend war, einen hohen Preis an Ihrer Gesundheit und Kraft von Ihnen verlangt hatte.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet