Der extreme Sadismus

Der extreme Sadismus
Tuesday 11 August 2009

Sehr geehrte Frau Doktor Miller,
Sie haben mir mit Ihren Worten das “Erziehung so zu einem Machtkampf wird“ ermöglicht, meine Kindheit und meinen Lebensweg in einem völlig neuen Licht zu sehen!
Im Childhoodforum schilderte ich einmal einen Vorfall aus meiner Kindheit, dessen Bedeutung mir erst nach
Ihrer Antwort wirklich klar wurde! Ich schrieb: “(…)
meine Mutter beklagte sich oft, wieviel Umstände ich ihr bereiten würde und ich wäre es nicht wert, deshalb versuchte ich mich aktiv im Haushalt zu beteiligen und wollte immer lieb sein (…). Einmal bat ich um die Erlaubnis in die Abendvorstellung vom Zirkus gehen zu dürfen, zusammen mit Freundinnen, sie sagte na ja, dann mache die Küche sauber und wenn ich zufrieden bin mit dir, dann kannst du gehen. Ich putzte und beeilte mich, sie “nahm die Küche ab“ und sagte, nein noch einmal putzen, so unordentlich wie es hier noch aussieht aber das ist ja typisch für so eine nutzlose (…) Göre wie dich. Also putzte ich wieder alles und zeigte ihr das Ergebnis, sie lachte mir böse in Gesicht und meinte, “das ist ja sehr schön und genauso wollte ich es haben, aber in den Zirkus gehst du trotzdem nicht“(…). Ich war am Boden zerstört und versuchte ruhig zu bleiben, damit sie keinen Grund hätte meinem Vater zu sagen ich wäre frech zu ihr gewesen oder laut (…). Du wolltest mich ohnehin nicht gehen lassen, stimmt doch, oder? Sie sagte nein, ich wollte nur das du dich beim Putzen richtig ins Zeug legst, du bist so dumm, dir kann man weiß ich was erzählen und du glaubst das (…). “

An diesem Tag habe ich in meinem Zimmer geweint und ich brauchte eine Woche ehe ich mit dieser Frau wieder reden konnte, mein Vater hatte mich am Abend immer zu den „Aussprachen“ heran zitiert, weil ich nicht mehr gesprochen habe. Ich versuchte ihm alles zu erklären, sie hätte meine Hoffnungen zerstört (…) er antwortete folgendermaßen: “Du bist eine undankbare Göre, total egoistisch und Mädchen müssen lernen zu verzichten, außerdem sollte ich meiner Mutter dankbar sein das sie mich so erzieht, sonst würde ich nie einen richtigen Mann finden, keiner will so eine egoistische Frau die immer nur an sich denkt. Deine Mutter liebt dich und sie hat wegen dir nichts als Ärger und immer wenn ich nach Hause komme, muß ich mir diesen (…) anhören, sei mal nett zu deiner Mutti und mache was sie sagt (…)“.

Ich habe damals erkannt, dass meine Mutter sich an meinem Leid erfreute, meine Beobachtung aber niemandem
anvertraut. Die Last der Schuldgefühle wurde erträglicher und ich fühlte wieder Haß, den ich nun aber zulassen
konnte, ich war damals 12 Jahre alt. Außerdem erkannte ich mit einem Schlag, dass ich meine Mutter nie zufriedenstellen noch ihre Liebe erringen konnte!

Dieses Ereignis habe ich mir eingeprägt und wollte auch die damit verbundenen Gefühle nie mehr erleben. Außerdem erkannte ich, daß meine Wünsche für mich ein Nachteil waren, sie brachten mich dazu zu hoffen und lieferten meiner Mutter einen scheinbaren Grund mir eine “Lektion“ zu erteilen, so dachte ich damals. Danach
äußerte ich keine “Wünsche“ mehr und nahm auch ihre Worte zur Erklärung, wenn ich Einladungen ausschlug.

Das war meine Art mich zu wehren, meine erste “Rebellion“ gegen meine Eltern, ohne jedoch eine schwere Bestrafung befürchten zu müssen, ich blieb bei meinem Verzicht und verließ irgendwann mein Elternhaus, um
meine Berufsausbildung zu beginnen. Ich glaubte damals fest daran egoistisch und schlecht zu sein, bei meiner
Ausbildung und später in meinem Beruf nahm ich immer wieder (freiwillig!) Nachteile und ein sehr hohes Arbeitspensum in Kauf, welches auch Neid und Haß auf mich zur Folge hatte und reagierte auf Herabsetzung und Angriffe mit einem erneutem Verzicht, äußerte aber ehrlich meine Meinung.

Mit der Wahrheit habe ich zwar immer die “Verwirrung“ aufheben können, mich aber zuvor in eine unerträgliche Lage bringen lassen, mich nicht (bzw. falsch und durch erneuten Verzicht!) gewehrt und dann am Ende
die Dienststelle gewechselt, einen Neuanfang gemacht (…) hinter mir liegen viele solcher Neuanfänge! Die Schuld gab ich mir selbst, meinte ich sei schlecht und habe nicht erkannt, dass ich mich die ganze Zeit wie ein
kleines Mädchen wehrte, dass Angst vor der Bestrafung der Eltern hat.

Als eine erwachsene Frau habe ich ganz andere Möglichkeiten mich gegen Benachteiligung und Herabsetzung
zu wehren und die Sprüche “man muß sich doch mal wehren“ und die damit einhergehende Verachtung gegen meine Person waren nur allzu verständlich. Ich schämte mich dafür, brach immer alle Kontakte ab, fing neu an.

Dieser Wiederholungszwang beruhte auf meiner starken Angst vor der Bestrafung meiner Eltern die dazu führte, dass ich mich über zwei Jahrzehnte hinweg nur wie ein kleines Mädchen und nicht wie eine erwachsene Frau
gewehrt habe. Diese Verantwortung für mein Verhalten habe nur ich allein, aber das Lesen Ihrer Bücher und
Ihre ehrlichen Antworten an mich gaben mir die Erkenntnisse und ein neues Verständnis meines Schicksals.
Ihnen meine Fortschritte mitzuteilen ist nur ein kleiner Beitrag Ihnen etwas von dem was Sie für mich getan haben zurückzugeben, ich danke Ihnen von Herzen!
Hochachtungsvoll ML

AM: Es verschlägt einem den Atem, wenn man über das sadistische Verhalten Ihrer Mutter liest. Das erinnert ja auch an das Märchen Aschenputtel, das niemanden empört, weil es doch “nur” ein Märchen ist. Dann liest man bei Ihnen, wie der Vater noch die kleine schwer verletzte Tochter in verlogener Weise zwingt, der Mutter dankbar zu sein, ihre Empörung und ihre maßlose Bitterkeit ganz tief zu unterdrücken und diese Gefühle Jahrzehnte lang in ihrem Körper verborgen zu halten. Zum Glück war es Ihnen möglich, die Grausamkeit Ihrer Eltern zu durchschauen und (ich denke?) die Wut zu fühlen. Das hat Ihnen ermöglicht, jetzt eine empathische Mutter zu werden. Oder sind Sie ohne die Wut ausgekommen?

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet