Kindesmisshandlung

Kindesmisshandlung
Sunday 16 March 2008

Sehr geehrte Frau Miller,

Anfang dieser Woche gab es im deutschen Fernsehen eine Reportage über das Leben und Leiden eines kleinen Mädchens, das vom Freund seiner Mutter schwerst mißhandelt wurde, am Ende ihres Lebens von ihren Eltern fast nackt in der Toilette eines Krankenhauses abgelegt wurde…Anschließend war eine Expertendiskussion über das Thema Kindesmisshandlung…

Diese Sendungen wurden weit nach Mitternacht wiederholt. Ich arbeitete am PC und las Abschnitte, wurde aber immer mehr gezwungen, hinzuschauen und mitzuverfolgen. Es war mir, als würden die Leute über mich reden. Mit einem Mal spürte ich einen emotoinalen Druck, Bilder der eigenen Vergangenheit tauchten auf. Aber im Gegensatz zu früher spürte ich etwas, es war nicht mehr nur eine rein gedankliche Betrachtung von Ereignissen.

Ich bin mittlerweile 57 Jahre. Meine Mutter hat mich als Kind häufig und intensiv geschlagen, meine Hände auf heiße Ofenplatten gedrückt, im Keller eingesperrt, gedroht, mich ins Heim zu schicken, bzw. auch, mich zu verlassen. Ich weiß nicht, wann sie angefangen hat und wann sie aufgehört hat. Aber wenn ich höre, dass mein Gesicht in den eigenen Kot gedrückt wurde, nachdem ich als Kleinkind diesen an meinem Laufstall verschmiert hatte, scheint es mir, dass das zemlich früh begonnen hat. Ich habe noch zwei Schwestern, denen nicht vergleichbares passiert ist. Meine Mutter war, bzw. ist eine “normale” Frau, ohne Drogenprobleme oder besonderen psychischen Auffälligkeiten, war zum Kriegsende 19 und hat es in Berlin erlebt. Mein Vater war die ersten 10-12 Jahre meines Lebens meist nur zum Wochenende daheim. Er hat mich nur ein Mal geschlagen.

All die Jahre war mir meine Vergangenheit bewußt, ohne dass ich davon emotional berührt war. Konnte quasi gefühlslos daran denken. Und nun, nach dieser Sendung, bin ich mit einem Mal aufgewühlt, muss weinen, bin mir unsicher, habe Furcht vor dem, was möglicherweise kommt. Ich bin mir mit einem Mal unsicher, ob ich möglicherweise an meine Tochter Druck und Entwürdigung weiter gegeben habe. Es ist, als stünde ich vor einer angelehnten Tür, hinter der ein dunkler Raum wartet. Einerseits zieht es mich dahin, andererseits habe ich Angst. Angst vor etwas, das ich nicht beherrschen kann, das mich beherrscht, übernimmt. Menschen, Nachbarn, die mir erzählen könnten, was damals passiert ist, gibt es nur noch wenige…

Mir fällt es auch schwer, das Ganze einzuordnen. Was war seinerzeit normal? Was haben andere Jugendliche damals zuhause ertragen müssen? Lehrer haben auch auf uns / mich eingeprügelt…

Auf der Suche nach Erklärungen stieß ich auf Ihren Namen und dem Hinweis auf Spätfolgen bei Erwachsenen.

Vielleicht können Sie mir zumindest eine Richtung angeben, in die ich weitergehen kann/sollte. Wird die Türe sich wieder schließen, soll ich hineingehen, oder auf gar keinen Fall? Soll ich versuchen, es wieder zu verdrängen? Soll ich professionelle Hilfe in Anspruch nehmen?

Vielen Dank, R. M.

AM: Es ist ein Segen für Sie, dass diese Türe sich etwas geöffnet hat, denn gerade dort befindet sich alles, was Sie finden müssen, um sich davon zu BEFREIEN. Das bestimmt ohnehin Ihr ganzes Leben, ohne dass Sie sich wehren können, solange Ihnen die Inhalte unzugänglich bleiben. Was Sie beschreiben, ist entsetzlich genug, würde man meinen, aber Ihr Leiden mag sich in Ihrem Körper noch mehr verstecken und Ihr Leben zerstören, wenn es unbewusst bleibt. Nun hat der Körper Sie eingeladen, zu fühlen, zu entdecken, und sich gegen die unbeschreibliche Grausamkeit aufzulehnen, deren Opfer Sie waren. Vertrauen Sie Ihrem Körper und schlagen Sie diese halboffene Türe auf keinen Fall zu. Vielleicht brauchen Sie keine Therapie, wenn Sie Ihre Gefühle aufschreiben, deren Berechtigung verstehen, sich gegen die erlittene Barbarei auflehnen und das Kind in Obhut nehmen können, das damals so schrecklich gelitten hat. Wenn Sie eine Therapie machen wollen, dann lesen Sie zuerst meine FAQ Liste (auf der Seite Artikel) und das Buch “Dein gerettetes Leben”. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg auf diesem Wege des Suchens.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet