Bevor die Kinder da sind

Bevor die Kinder da sind
Saturday 04 April 2009

Sehr geehrte Alice Miller,

zuerst einmal möchte ich Ihnen meine Bewunderung aussprechen, dass Sie in Ihrem Alter noch so außergewöhnlich aktiv sind, sprich Bücher verfassen, Leserbriefe empfangen und diese teilweise sogar noch beantworten. Wenn ich meine Großmutter betrachte, und diese ist sogar noch 5 Jahre jünger als Sie, dann sehe ich einen Unterschied wie Tag und Nacht. Jedenfalls finde ich Ihren „Lebensstil“ sehr nachahmenswert…

Nun, das ist aber nicht der Grund meines Schreibens wie Sie sich sicher denken können. Ich habe Ihr Buch: Das Drama des begabten Kindes erstmalig im Alter von 19 und dann in den letzten 11 Jahren einige weitere Male gelesen. Was hatte es damals in mir bewirkt? Ich habe mich darin wieder gefunden. Zum ersten Mal in meinem Leben sprach jemand aus, was in mir verborgen lag, was bis dahin nur schwerlich Worte und noch viel weniger „Anerkennung“ gefunden hatte. Es folgten 2-3 schwere, komplizierte Jahre des Konflikts mit meiner Mutter, der wenig persönlichen Kontakt mit ihr beinhaltete. Doch das gute, brave Mädchen wurde „erwachsen“ und fand zurück zur ihrer geliebten Mutter und wie ich heute sehe, auch zurück zur alten Lüge. Auch ihr neustes Buch Dein gerettetes Leben hat mich ein weiteres Mal zu einer inneren Auseinandersetzung mit diesem Thema angeregt. Das Leben hat mich gewissermaßen zu Ihrem Buch geführt, jetzt da ich nach vielen Jahren erneut keinen Kontakt mehr zu meiner Mutter habe. Aber diesmal ist es mit dem Lesen Ihrer Zeilen anders, denn ich habe in all den vergangenen Jahren, trotz jener stets mitschwingenden Lüge nie aufgegeben nach Antworten auf meine vielen innewohnenden Fragen zu suchen. Und teilweise habe ich sie in Lebenserfahrungen und Reflektionen darüber auch gefunden. Natürlich spiegelt ihr aktuelles Buch eine große Bandbreite meiner kindlichen Erfahrungen wieder, aber was mich viel mehr fasziniert ist die Tatsache, dass ich meine eigenen, selbst errungenen Weltanschauen darin bestätigt fand. Das ist nicht nur ein enormer Fortschritt für mich, sondern dieser Umstand gibt mir Kraft, zeigt mir, ich war all die Jahre auf dem richtigen Weg, auch wenn mein Umfeld, gar ich selbst manchmal daran zweifelte. Letztendlich war ich doch immer irgendwie allein mit meinem Gedankengut, nun aber weiß ich, dass es nicht wirklich so ist, dass es auf dieser Welt auch andere Menschen gibt, die nicht nur den Mut haben, in ihre Vergangenheit zu blicken, sondern sich zu dem auch noch trauen sich der Gegenwart zu stellen. Beides zusammen lässt mich Hoffnung haben für die Zukunft. Ich glaube, der Grund, warum Ihnen die vielen Menschen und auch ich ihr Herz ausschütten ist, dass wir bei Ihnen das Gefühl haben endlich mal ernst genommen zu werden mit und in unserem Leiden. Ich bin von meinen Eltern, Großeltern, Lehrern, Psychologen, Kollegen, Partnern und auch von manchen meiner Freunde, als sie nämlich älter wurden und ihr Leid der Pubertät vergaßen, zum Schweigen und Vergessen der Vergangenheit aufgefordert worden. Aber da gab und gibt es Gott sei Dank jenes WARUM? in mir.

Und so bin ich zu einer Suchenden geworden. Ich habe in Büchern und Gesprächen gesucht, auch in Zwiegesprächen, die ich dann niederzuschreiben begann. Einige Zeit habe ich es mit Familienaufstellungen nach Bert Hellinger versucht, aber trotz der darin „erlangten“ Vergebung, krochen die altbekannten Gefühle und die damit behafteten Probleme irgendwann doch wieder hervor. Und auch jene Psychologinnen brachten mir wenig Erfolg. Das was sie mir erzählten, wusste ich im Grunde längst. Ich wollte und brauchte ihre Hilfe eigentlich nur, um mein Wissen auf gesunde Weise in mein Leben zu integrieren. Doch es war stets nur eine Enttäuschung und ich fühlte mich um mein Geld betrogen. Nach den Sitzungen fühlte ich mich meist schlechter und mit mehr Schuldgefühl behaftet als vorher oder ohne sie. Sie waren auch nur ein Teil dieser großen Lüge. Heute kann ich sehen und auch verstehen, warum das so war. Ich war damals einfach zu unsicher, doch aus meiner Unsicherheit entstand zunehmend mehr Sicherheit. Ich gehe seither meinen Weg allein, d.h. auf meine Weise, in meinem Tempo, so wie es gut für mich ist. Ich bin sozusagen zu meinem eigenen wissenden Zeugen geworden und ich weiß dennoch, wie gut es sich anfühlt auch einen in der Außenwelt zu haben, selbst wenn nur für einen kurzen Moment.

Nun möchte ich erzählen, was mir geholfen hat, mich oder vielmehr das Mädchen in mir, verstehen zu lernen. Es begann mit der 1. Schwangerschaft meiner besten Freundin. Erst da bemerkte ich die erstaunliche Ähnlichkeit ihrer Lebensumstände mit den damaligen meiner Eltern. Bereits während der Schwangerschaft gab es viele Probleme in Ihrer Beziehung und sie trennten sich ähnlich bei mir, als die Kleine gerade erst acht Monate alt war. Meine Freundin konnte nicht verstehen, warum die Kleine nicht richtig aß, nicht richtig schlief, schlussendlich völlig unausgeglichen war. Ich aber konnte es nicht nur sehen, nein, ich fühlte den Schmerz der Kleinen im vollen Ausmaß. Denn das, was sich da abspielte war ja im Grunde genommen auch meine Geschichte, nur dass ich sie mir diesmal bewusst von außen ansah. Manchmal ist es mir zuviel geworden und ich bin weggerannt, habe mich dann vom Leben meiner Freundin ein wenig distanzieren müssen bis ich mich allmählich wieder nähern konnte. Heute ist die Kleine 3 ½ Jahre alt und hat wie ich damals ein Geschwisterchen. Ihre Mama ist zunehmend frustrierter geworden und nun muss ich sehen, an wen sie diesen Frust unbewusst auslässt. Mein Herz blutet, es zerreißt schmerzhaft, wenn ich sehe, dass sie das Mädchen entnervt am Arm packt, während dieses sich weinend zu wehren versucht in ihr Zimmer geschleift wird und mit den Worten: wenn du wieder lieb bist und auch zu weinen aufgehört hast, kannst du wieder rauskommen hinter der großen, mächtigen, von der Mutter und Familie trennenden Tür zurückgelassen wird. Da ist sie, meine Geschichte, da sind sie, meine verschollenen Erinnerungen und wenn es auch keine konkreten Bilder gibt, dann sind es meine Gefühle, die den Wahrheitsgehalt bezeugen. Jener Zorn, der empor kriecht, jene Wut die heraufsteigt und wie früher noch von mir zurückgehalten werden, immer mit Bedacht auf die Folgen. Nur dass es heute nicht die Angst vor dem Verlust meiner Mutter, sondern dem meiner besten Freundin ist, die mich zum Unterdrücken dieser Gefühle mahnt. Kein Wunder, dass ich stets von schlimmen Depressionen heimgesucht wurde, nach dem ich eine gewisse Zeit mit meiner Freundin und ihren Kindern verbracht hatte, denn bis heute habe ich stets geschwiegen. Ich gab mir stets zu bedenken: Vergiss nicht, dass auch du einmal Mutter sein kannst und u. U. das Gleiche tun wirst und dann wärst du einer von Ihnen. Du könntest der gleichen Handlungen fähig sein, also schweig lieber, denn du bist nicht besser! Und außerdem bist du noch keine Mutter und hast folglich auch keine Ahnung, was es heißt eine zu sein und mit welchem Stress das manchmal einhergehen kann…und so setzt es sich fort.

Ich stehe sozusagen heute immer noch zwischen mir (repräsentiert von den Kindern meiner Freundin) und meiner Mutter (repräsentiert von meiner Freundin selbst). So wie ich damals meine Gefühle unterdrückte, um meine Mutter nicht zu verlieren, um ihr zu gefallen und „treu“ zu sein, so habe ich bisher auch meiner Freundin anstelle ihrer Kinder beigestanden. Ich habe vor Kurzem den Entschluss gefasst dies zu ändern, auf die Gefahr hin die langjährige Freundschaft zu verlieren. Doch ist es eine wahre Freundschaft, so wird diese es überwinden. Meine Freundin und ich haben uns damals als Teenager geschworen, es anders zu machen als unsere Eltern und wir wollten einander eigentlich auch daran erinnern, falls wir von unserem Vorhaben einmal abkommen sollten. Wir haben es nicht vergessen, wir waren nur zu feige es auch wirklich zu tun und nun wird es Zeit dies zu ändern. Es wird mir nicht leicht fallen und sie wird das einmal verstehen, wenn sie in die Situation kommen sollte, das Gleiche bei mir tun zu müssen und ich werde sie nicht nur um genau dieses Handeln bitten, sondern ich werde sie dazu anhalten. Auch das gehört zu einer wahren Freundschaft.

Ich habe im Moment keinen Kontakt zu meiner Mutter bzw. sie keinen zu mir, weil ich es gewagt habe, mich gegen sie zu erheben. Es war nichts Außergewöhnliches, nicht einmal ein Streit, ich habe mich nur geäußert, als ich ein Verhalten von ihr nicht fair empfand. Nun, im Grunde hat sie wie damals die Tür zwischen mir und ihr zugeknallt, aber sie sieht noch nicht, dass ich heute kein kleines Mädchen mehr bin, das sie mit ihren Methoden einschüchtern kann. Heute jedenfalls nicht mehr. Ich habe lange Zeit weinend hinter dieser Angst einflößenden Tür verbracht, in der Hoffnung sie würde eintreten, mich in ihre Arme nehmen und sich für ihr unfaires Verhalten bei mir entschuldigen. Es ist nie geschehen und es wird wohl auch nie mehr so kommen. Diese Hoffnung fürchte ich, muss ich wohl langsam einmal aufgeben. Schade, aber das Leben geht weiter.

Früher wollte ich, wenn ich einmal Kinder haben sollte, unbedingt einen Jungen. Ich war fest überzeugt davon, auch nur einen solchen zu kriegen, aber auf gar keinen Fall durfte es ein Mädchen werden. Ich hatte das nie verstanden, bis sich mein Wunsch vor 3 ½ Jahren zu wandeln begann. Es war wohl die entsetzliche Furcht davor, dass diesem kleinen Mädchen das Gleiche widerfahren könnte, wie mir einmal. Meine Kindheit wird wohl entgegen meiner jahrelangen Auffassung alles andere als friedvoll und behütet gewesen sein. Ich war bald 30 Jahre lang der Meinung einen Jungen würde es hier auf Erden besser ergehen. Nun, ja die Wahrheit tut weh, aber die stets aufrecht erhaltene Lüge noch viel mehr.

Hier möchte ich mit dem kleinen Auszug aus meiner Geschichte enden. Es gäbe viel anderes, durchaus Empörendes zu berichten, doch das mache ich mit mir selbst aus, weil es den Rahmen einfach sprengen würde. Ich bin im Laufe der Jahre, mit unter durch ihr Lebenswerk zu einem, wie sie es nennen, wissenden Zeugen geworden. Ihr Mut hat anderen Mut zur Folge gehabt und meinem wird weiterer folgen…

Dankeschön!

AM: Die meisten Menschen entdecken das Leiden ihrer Kindheit (wenn überhaupt) erst, wenn sie Eltern geworden sind und realisieren, dass sie ihren Kindern Schmerzen zufügen, ohne es zu wollen. Zum Glück haben Sie schon früher den Zugang zu Ihrer Wahrheit bekommen, zumindest den Anfang. Sie haben sich Ihr Wissen auf Ihrem eigenen, sehr kreativen Weg verschafft und werden daher nicht mit den Schäden Ihrer künftigen Kinder für Ihre Verleugnung bezahlen müssen. Dazu möchte ich Ihnen herzlich gratulieren. In der Revolte des Körpers habe ich am Beispiel von Nietzsche, Schiller und anderen gezeigt, wie Menschen von aussergewöhnlicher Begabung mit viel Mut und Leidenschaft nach der abstrakten Wahrheit gesucht hatten, aber der konkreten Wahrheit ihrer Kindheit ausgewichen waren, und schwer dafür bezahlen mussten. Sie erzählen in Ihrem Brief, wie sich Ihnen Ihre Wahrheit langsam enthüllt hat und wie sie Ihnen Mut macht, sich von den aufgezwungenen Lügen und Schuldgefühlen zu befreien. Die normale biologische Reaktion auf zugefügten Schmerz ist Wut und nicht Liebe. Wenn wir uns aus Angst zum Gegenteil zwingen, verlieren wir die emotionale Redlichkeit und kommen in die Falle des Selbstbetrugs. Doch, wie ich schon schrieb, nicht nur die Angst ist ansteckend, sondern auch der Mut. Ich denke, dass Ihr Brief andere Leser zum Denken und Fühlen anregen wird, vielleicht sogar zu Versuchen, wie Sie sie mit Hilfe Ihrer Freundin gemacht haben.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet